Die Vergolderin
Historischer Roman
'Braunschweig, 1604: Auf der Flucht vor Plünderern wird Elisabeth von einem geheimnisvollen Blinden gerettet. Doch ihr Herz gehört einem anderen. In der aufblühenden Handelsstadt Braunschweig arbeitet sie heimlich als Vergolderin. Ihr Geschick bringt ihr...
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Produktinformationen zu „Die Vergolderin “
'Braunschweig, 1604: Auf der Flucht vor Plünderern wird Elisabeth von einem geheimnisvollen Blinden gerettet. Doch ihr Herz gehört einem anderen. In der aufblühenden Handelsstadt Braunschweig arbeitet sie heimlich als Vergolderin. Ihr Geschick bringt ihr viele Aufträge, aber auch den Zorn ihres Großvaters ein, denn Frauen ist das Handwerk untersagt. Einer der mächtigsten Gildemeister hat es auf Elisabeth abgesehen und stellt ihr nach. Als sie sich wehrt, droht er ihr. Da begegnet sie ihrem Retter wieder. Kann er ihr auch diesmal helfen? Viel Atmosphäre und fesselnde Spannung im Braunschweig des 17. Jahrhunderts
Klappentext zu „Die Vergolderin “
'Braunschweig, 1604: Auf der Flucht vor Plünderern wird Elisabeth von einem geheimnisvollen Blinden gerettet. Doch ihr Herz gehört einem anderen. In der aufblühenden Handelsstadt Braunschweig arbeitet sie heimlich als Vergolderin. Ihr Geschick bringt ihr viele Aufträge, aber auch den Zorn ihres Großvaters ein, denn Frauen ist das Handwerk untersagt. Einer der mächtigsten Gildemeister hat es auf Elisabeth abgesehen und stellt ihr nach. Als sie sich wehrt, droht er ihr. Da begegnet sie ihrem Retter wieder. Kann er ihr auch diesmal helfen?Viel Atmosphäre und fesselnde Spannung im Braunschweig des 17. Jahrhunderts
Lese-Probe zu „Die Vergolderin “
Die Vergolderin von Helga Glaesener Eins
Siebzehn Monate später
... mehr
Hans Lippold war Hauptmann einer dreißigköpfigen Räuberbande, die sich auf das Brandschatzen einsam gelegener Höfe und auf Kirchendiebstähle spezialisiert hatte. Über Monate hinweg hatte er die Landjäger, die ihn fangen wollten, abgeschüttelt, und als Krönung seiner Untaten hatte er die Tochter des Alfelder Bürgermeisters entführt, sie zu seiner Räuberhure gemacht und sie geschwängert. Aber dann war ihm der Boden unter den Füßen zu heiß geworden, und nun hatte man ihn in der Nähe von Braunschweig gesichtet, wo er sich angeblich niedergelassen hatte.
Hier, irgendwo hier, dachte Elisabeth und hatte Mühe, gegen die Furcht anzukämpfen, die ihr die Brust umklammerte. Am Himmel funkelten Sterne, die sie aber kaum wahrnahm. Sie eilte, eingehüllt in ihren Mantel, einen einsamen Weg entlang, der östlich des Braunschweiger Landwehrwalls durch einen Wald führte. Seit einer halben Stunde hatte sie kein Gebäude mehr zu Gesicht bekommen.
Braunschweig war groß, und die Wälder und Äcker, die die Stadt umgaben, schier unüberschaubar. Kaum anzunehmen, dass sie den Mordgesellen hier begegnen würde. Trotzdem konnte sie die Gedanken an Lippold und seine Bande nicht verdrängen. Vor allem wegen der Knöchelchen. Marga hatte das Gerücht vom Markt mitgebracht und brühwarm weitererzählt: Lippold hatte die Kinder, die ihm die Bürgermeistertochter gebar, erwürgt und ihre Leichen in die Baumkronen gehängt. Wenn dann der Wind durch ihre Gebeine fuhr und an den Knöchelchen riss, hatte er zu der unglücklichen Mutter gesagt: Hör nur, wie unsere Kindlein singen. Dieser schreckliche Satz hatte sich in Elisabeths Hirn eingebrannt. Hör nur, wie unsere Kindlein singen. Marga hatte ihn mehrere Male wiederholt, so empört war sie gewesen. Und nun war es, als wimmerten die dünnen Stimmchen im Geäst und als jammerten sie aus sämtlichen Büschen. Stumm verfluchte Elisabeth Margas Neigung zu Schauergeschichten. Ging sie diesen Weg nicht schon zum fünften Mal? Und noch nie hatte sie etwas Unheimlicheres gesehen als einen Wolf oder Fuchs, die flohen, sobald sie ihrer ansichtig wurden. Knöchelchen!
Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf den Weg zu richten. Das Mondlicht machte Äste, Bodensenken und Teile des Gebüschs am Wegrand sichtbar. Sie sah kleines Getier vorbeihuschen, und konnte, wenn das Licht günstig fiel, sogar einzelne Blätter im schwarzen Buschwerk erkennen. Der Landwehrwall, das Verteidigungswerk, das die Stadt in einem großzügigen Abstand von mehreren Meilen umringte, tauchte immer wieder zwischen den Bäumen auf. Im Grunde war dieses Stück Wald sicherer als die Braunschweiger Gassen, in denen es von Beutelschneidern nur so wimmelte.
Unbewusst tastete ihre Hand nach der Brust. Denn das war die andere Sache. Sie trug etwas unter dem Mieder, das einen Mann wie Lippold sofort auf ihre Fersen gesetzt hätte: Blattgold - fünfzehn hauchdünn gehämmerte Quadrate, sechs mal sechs Zoll groß, die in einer flachen Holzschachtel steckten.
Berthold Stammer, der Mann, den sie liebte, war aus Osnabrück nach Braunschweig geritten und hatte ihr heimlich diesen Schatz zugesteckt. Denn er hatte sich nicht von ihr losgesagt - trotz der Schande, die Vater über sie gebracht hatte. Nachdem Großvater sie aufgenommen hatte, hatte sie ihm eine Nachricht übermitteln können, wo sie jetzt wohnten, und da war er gekommen. Und hatte ihr angeboten, ihr Gold zu überlassen, um damit Spiegelrahmen zu verzieren. Diese Rahmen verkaufte Berthold weiter und gab ihr den Gewinn. Elisabeth sparte die Münzen, um Christian, ihrem Bruder, eine Lehre bezahlen zu können. Und - wer weiß - vielleicht sogar Marga eine Mitgift. Du kannst dich auf mich verlassen, Mutter!
Sie lächelte einen Moment und klopfte auf die Holzschachtel. Nicht weit entfernt - kurz vor dem Gliesmaroder Tor - hatte ein Feuer einen Teil der Dornenhecke niedergebrannt, die den Landwehrwall schützte. Dort würde sie sich hindurchzwängen. Dann würde der Torwächter, den sie mit einigen Pfennigen bestochen hatte, sie in die Stadt zurücklassen. Und in spätestens einer Stunde - lange bevor Großvater und die anderen erwachten - war sie wieder zu Hause.
Während sie noch diesem erfreulichen Gedanken nachhing, drang plötzlich ein Schrei durch den Wald. Ein schrilles Geräusch, das die Nacht durchschnitt und sich anhörte, als brüllte ein Mensch in höchster Not oder größtem Schmerz auf. Sie blieb wie angewurzelt stehen und horchte. Aber der Schrei war schon wieder verklungen, und einen Moment fragte sie sich, ob sie ihn sich wie das Singen der Säuglingsknochen nur eingebildet hatte. Nervös zog sie die Kapuze ihres schwarzen Wollmantels über die blonden Haare.
Und dann hörte sie etwas, das viel schlimmer als ein Schrei war. Nämlich Männerstimmen, die sich ihr von einem Seitenweg aus näherten.
Rasch flüchtete sie ins Unterholz. Sie kauerte sich hinter einen Busch voller Blätter und Dornen, raffte mit hämmerndem Herzen den schwarzen Mantel um ihr Kleid, bis er den helleren Stoff bedeckte, und wartete. Fieberhaft suchte sie mit den Augen die Dunkelheit ab. Aber nichts rührte sich, und auch das Gespräch war wieder verstummt. Vielleicht hatten die Männer einen anderen Weg eingeschlagen? Sie biss sich auf die Lippe, duckte sich noch tiefer und versuchte sich vorzustellen, was die Leute um diese Zeit in den Wald geführt haben mochte. Nichts davon gefiel ihr. Lippold?
War es vielleicht wirklich Lippold? Sie merkte, wie ihre Füße zu kribbeln begannen. Wie spät es wohl war? Die Wache des Mannes, den sie bestochen hatte, endete um Mitternacht. Wenn sie ihn verpasste, würde sie erst am Morgen nach Hause zurückkehren können. Und dann setzte es Fragen, die sie lieber nicht beantworten wollte. Die Männer waren fort, nicht wahr?
Umständlich richtete sie sich wieder auf, rieb den eingeschlafenen Fuß an der Wade und kehrte auf den Pfad zurück. Niemand war zu sehen, keine Menschenseele weit und breit. Sie lächelte verzerrt. Vorsichtig folgte sie dem Weg, bis er eine Biegung machte. Und zauderte erneut. Baumkronen verdeckten hier den Himmel, und das Stück Weg, das vor ihr lag, was stockdunkel. Vergeblich versuchte sie, die Finsternis mit den Augen zu durchdringen. Und dann waren die Stimmen plötzlich wieder da, und zwar hinter ihr und dieses Mal so nah, als säßen ihr die Kerle direkt im Nacken. Elisabeth flüchtete ins Unterholz zurück, blieb aber nicht stehen, sondern rannte weiter.
»Hey, da ist er!«, hörte sie jemanden schreien.
»Los, hinterher. Dreckskerl! Wir kriegen dich!«, brüllte eine böse, tiefe Stimme.
O Herrgott, lass das nicht zu, erbarme dich ... Ihr Mantel verfing sich im Gestrüpp, und sie musste daran reißen, um weiterzukommen. Zweige brachen unter ihren Füßen, und die Blätter raschelten wie Seidenkleider. Sie machte einen Höllenlärm. Der Wald schien plötzlich lebendig geworden zu sein. Die Sträucher schnappten nach ihren Kleidern, und Luftwurzeln brachten sie zum Stolpern.
»Ich ss...eh nichts«, rief einer ihrer Verfolger. Sie erstarrte und drehte den Kopf. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war einer der Männer ihr bedrohlich nahe gekommen.
»Und ich sag: Er ist hier! Ein Gulden obendrauf für den, der ihn schnappt.«
»Und zwei für den, der ihm die Kehle durchschneidet.« Das war wieder die tiefe, böse Stimme. »Ist deine Schuld! Wir hätten nur warten müssen!«
»Scheiß drauf !«
»Ja, schsch...eiß, aber ohne den geh ich nicht zurück, das ssag ich euch. Hitzel wwwird wütend, wenn wir ihm sagen, dass er uns durch die Lappen ist. Hhhört ihr was?«
Elisabeth konnte kein Glied rühren. Eine Welle aus Angst spülte durch ihren Körper. Die Männer waren mindestens zu dritt. Und wenn sie sie einkreisten? Und wenn das vielleicht schon geschehen war? Ihr Kopf flog herum, aber hier im Unterholz, unter den dichten Laubkronen, war es so dunkel, dass sie nichts sehen konnte, was weiter als eine Armlänge entfernt war. Sie stand bis zu den Waden in den verrottenden Blättern. Es war unmöglich, einen lautlosen Schritt zu tun. Sollte sie sich einfach niederducken? Doch selbst das würde jemand, der lauschte, hören. Halb verrückt vor Angst, wollte sie ihren Mantelstoff von einem Dornenzweig befreien, in dem er sich verhakt hatte. Sie zupfte am Stoff...
Und wurde am Arm gepackt.
Wären ihre Kiefer nicht im Bemühen, jeden Laut zu unterdrücken, völlig verkrampft gewesen, hätte sie jetzt wohl aufgebrüllt. Die Hand zog sie mit festem Griff einige Schritte weit in eine noch tiefere Dunkelheit. »Psst.« Jemand presste sie an sich und umschlang sie mit beiden Armen, jedoch ohne ihr dabei weh zu tun. Sie musste in eine Höhle geraten sein.
»Ich hab ihn gesehen, verdammt. Gerad eben noch.« Das war die dunkle, böse Stimme.
Der Stotterer lachte. »Oo...der des Teufels Großmutter.«
»Halt die Schnauze!«
Blätter raschelten. Elisabeth hielt den Atem an. Um sie herum roch es nach Feuchtigkeit und Erde, nach Urin und Stalldreck. An ihrer Hand klebte etwas wie Spinnweben. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Spalt, der eine Winzigkeit heller als der Rest ihrer Umgebung war - den Zugang zu der Höhle, in die man sie gezogen hatte.
»Nun lärmt doch nicht so!«, fauchte die dunkle, böse Stimme.
»Aa...ber vielleicht ...«
»Er kann nicht weit sein. Wir müssen horchen«, wurde der Stotterer angeblafft.
Der Mann, der Elisabeth festhielt, roch schwach nach Parfüm. Sein Wams war weich - vielleicht aus Samt, dachte sie. Er schien mit den anderen nichts zu tun zu haben. Ein Retter. Ein von Gott gesandter Engel, dachte sie, und musste an sich halten, nicht nervös aufzulachen. Gott sandte seine Engel nicht zu gewöhnlichen Menschen. Und gewiss nicht zu einer wie ihr, die den eigenen Vater hasste und den Großvater, der sie aufgenommen hatte, fast ebenso. Nein, es musste sich um einen Kaufmann handeln, oder einen ähnlich reichen Menschen, den die Strauchdiebe überfallen hatten. Er hatte sich hierhergeflüchtet, und die Männer hatten ihn verfolgt. Und sie selbst war dummerweise zwischen die Fronten geraten. Gott, lass nicht zu, dass ich hier sterbe ...
»Ich weiß, dass er hier ist«, murrte die dunkle, böse Stimme schließlich. »Er war vor mir. Ich hatt ihn so gut wie gekrallt, den Scheißer!«
»Du hättest ihn gar nicht erst entkommen la...assen dürfen «, mäkelte der Stotterer. »Hi...itzel wird das nicht ...« »Hörst du?«
Der Stotterer musste nicht fragen, was sein Kumpan meinte. Wieder gellte ein Jammerlaut durch die Nacht.
»Er lässt den Kutscher brennen«, hauchte einer der Männer.
»A...aaber das muss er nicht. Wir ha...am doch alles, was wir wolln.«
Die böse Stimme lachte. »Er tut's auch nicht, weil er muss, sondern weil's ihm Spaß macht, du Ratte!«
»A...aaber er muss doch gar nich!« Der Stotterer klang, als wollte er in Tränen ausbrechen. Die Männer waren jetzt so nah herangekommen, dass ihre Körper den Eingang verdunkelten. Ein schieres Wunder, dass ihnen der Spalt verborgen blieb.
»Wenn du keinen Ärger willst«, flüsterte die dunkle, böse Stimme hämisch, »dann sag ihm in dieser Stimmung lieber nich, was er muss oder nicht muss.«
Ein weiterer Schrei. Dieses Mal schien er gar nicht mehr enden zu wollen. Er wurde schriller und immer qualvoller, und Elisabeth krallte die Finger in den Samt des Fremden. »Psst«, flüsterte der Mann, es war nur ein Hauch in ihrem Haar. Er drehte behutsam ihr Gesicht und drückte ihr Ohr gegen seine Brust, so dass der Schrei zwischen seiner Hand und dem Stoff seiner Kleider verklang. Sie spürte den Schlag seines Herzens und seine Finger, die beruhigend über ihren Kopf strichen. Der Schrei war doch nicht verstummt. Mit einem Mal hörte Elisabeth ihn wieder, aber auf seltsame Weise. Er kam jetzt nicht mehr von außen, sondern schien durch ihren Kopf zu gellen. Und plötzlich sah sie auch die Bilder eines Mannes, den man verbrannte. Eine Puppe, die in einem Scheiterhaufen hüpfte. Einen roten, mitleiderregenden Feuertänzer.
»Psst«, hauchte der Fremde und strich durch ihr Haar ...
Als Elisabeth ihre Umgebung wieder bewusst wahrzunehmen begann, saß sie auf einem steinigen, unebenen Boden, mit dem Rücken gegen eine Felswand gelehnt. Morgenlicht fiel in einem dünnen Strahl auf den Boden vor ihren Füßen und beschien schwarze Krümel - wahrscheinlich Mäusedreck. Eine Zeitlang war sie zu benommen, um sich zu erinnern, wo sie war. Dann fiel ihr die Nacht wieder ein, und ihr Magen verkrampfte sich. 22 Und von einem Moment auf den nächsten war alles wieder da: der Feuertänzer ... die Schreie ... seine zuckenden Glieder in den Flammen ...
Entsetzt presste sie die Fäuste auf die Ohren, aber das half überhaupt nichts. Es war, als hätte sich der Schrei in ihrem Kopf gefangen. Als hätte man einen Vogel vom Himmel geholt und in einen Käfig gesperrt. Und die Stäbe des Käfigs bestanden aus brennenden Menschen.
Jemand sprach. Es dauerte eine Weile, bis sie es überhaupt merkte. Der Mann. Der Mann, der sie in die Höhle gezogen hatte. »Alles gut?«
Der Klang seiner Stimme vertrieb die Schreie. Auch die Bilder verblassten.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Die Kerle sind fort, schon vor Stunden, noch in der Nacht. Niemand wird dir etwas tun.«
Elisabeth nahm die Hände von den Ohren, biss auf ihr Daumengelenk und starrte auf ihre schwarzen Schnürschuhe und den Saum ihres Mantels, der sich über den Schuhen kräuselte. Sie hätte sich gewünscht, dass der Mann mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme weitersprach, aber er fand offenbar, dass alles gesagt war. Heilige Jungfrau, ich danke dir. Sie flüsterte hastig ein Gebet. Gott hatte sie erhört. Sie lebte. Sie hatte das entsetzliche Ereignis der vergangenen Nacht heil überstanden.
Ihre Blicke wanderten durch die Höhle. Nicht alle Wände waren aus Fels. Über ihr hatten sich Baumwurzeln durch Erde gebohrt. Ein in Jahrhunderten entstandenes natürliches Versteck. Möglicherweise hausten hier Eulen, denn zwischen dem Mäusedreck lagen Federn und Gewölle. Sie rappelte sich steif auf und wischte den Schmutz von ihren Kleidern.
Der Mann hatte sich mit dem Rücken zu ihr an den Fels am Höhleneingang gelehnt und schaute ins Freie. Sie starrte auf seinen Hinterkopf. Er hatte dichtes, braunes, lockiges Haar, das er etwas länger trug, als es Mode war. Über dem schwarzsamtenen Wams hing ein weißer Spitzenkragen, und auch aus den Ärmeln quollen feinste Spitzen, die aber zerrissen waren. Er sah gut aus, nicht nur wegen seiner feinen Kleider. Die meisten Mädchen hätten sich nach ihm umgeschaut. Außer, sie haben ein Jahr lang auf der Straße gelebt und mitbekommen, was sich hinter dem Äußeren verbirgt, dachte Elisabeth bitter. Wie die Kerle waren, wenn sie sich einer Frau gegenübersahen, die keinen Beschützer an der Seite hatte. Berthold war anders, zum Glück. Doch die meisten Männer ... »Ihr hättet mich wecken können«, sagte sie spröde.
Der Fremde rührte sich nicht.
Verstohlen griff Elisabeth nach ihrer Holzschachtel. Sie befand sich immer noch unter dem Mieder, wie sie erleichtert feststellte. Das war das Wichtigste. Sie hatte ihr Gold behalten. Der Mann, den sie gebrannt hatten, tat ihr leid, aber er ging sie nichts an. Nach dem Winter auf der Straße ging sie überhaupt nichts mehr etwas an, außer Marga, Christian und sie selbst. Und wem das hartherzig vorkam, der wusste eben nicht, wie es im Leben zuging.
Zögernd trat sie neben den Fremden. Hatte er sie vor dem Tod bewahrt? Oder hatte er nur versucht, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, als er sie in die Höhle zog? Widerstrebend gestand sie sich ein, dass er ihr wohl hatte helfen wollen. Wenn das Raubgesindel sie erwischt hätte, hätten sie ihn vielleicht in Ruhe gelassen. Ich muss ihm danken, dachte Elisabeth. Aber sie hasste Dankbarkeit. Dankbar sein zu müssen hieß, einzugestehen, dass man schwach gewesen war, und wer schwach war, ging unter. Das war eine weitere Lehre, die sie aus dem Hungerwinter gezogen hatte.
»Danke«, stieß sie hervor.
Der Mann lächelte kurz, schaute sie dabei aber nicht an. Sein Blick hing an den Büschen, die im Morgentau glänzten und wahrhaftig nichts boten, das irgendein Interesse gerechtfertigt hätte.
Elisabeth räusperte sich. »Der, den sie ... den sie gebrannt haben ... Er ist wohl tot?«
»Das wünsche ich ihm.«
Elisabeth blickte in sein Gesicht. Der Fremde hatte einen Grund, die Haare länger als üblich zu tragen. Über seine linke Gesichtshälfte zog sich Narbengewebe, wohl von einer Verbrennung. Noch ein Feuertänzer, dachte sie. Sie schämte sich, als sie merkte, dass sie ihn anstarrte. Hastig blickte sie ebenfalls ins Gebüsch. Die Erde davor war niedergetreten. Dort mussten die Mordgesellen gestanden haben, als sie nach ihr suchten. Dort hatten sie den Schreien des Mannes gelauscht, den dieser Hitzel marterte, um dann ...
»O gütige Jungfrau«, stieß sie entgeistert hervor.
»Was denn?«
»Ich bin eingeschlafen. Ich ... ich kann mich nicht daran erinnern, wann die Männer gegangen sind. Ich ... bin eingeschlafen. « Sie hörte das Erschrecken in ihrer eigenen Stimme. Ganz in ihrer Nähe war ein Mensch zu Tode gequält worden, und sie war darüber selig eingeschlummert. Sie besaß so viel Mitgefühl wie ein Stück Vieh.
»Man kennt es aus dem Krieg.«
»Was?«
»Ein Araber hat mir davon erzählt, aus Tunis«, sagte der Mann. »Er hat es auf Kriegszügen beobachtet. Einige Menschen schlafen ein, kurz bevor die Schlacht beginnt. Nicht weil sie betrunken wären oder feige. Einfach so. Es ist eine Narretei der Natur.«
»Ah ja.« Marga würde ihn auslachen. Sie würde ihm erklären, dass ihre Schwester durch ihr Unglück eben nicht demütig geworden war, wie es einem gottesfürchtigen Menschen zukam, sondern herzlos. Und genau so war's ja auch. »Findet Ihr den Weg aus dem Wald heraus?«, fragte sie den Fremden, um die Stille zu durchbrechen.
»Nein«, sagte der Mann.
»Es ist ganz einfach. Seht Ihr, dort drüben, wo die Büsche niedriger ...«
»Ich bin blind.«
»Was?« Sie starrte ihn an. Und wusste, dass er log. Er war dem Überfall entkommen. Das allein bewies, dass er nicht blind sein konnte. Und er hatte sie in der Dunkelheit gesehen und in die Höhle gezogen. Nur wusste sie keinen Grund, warum er ihr etwas vorflunkern sollte. Vorsichtig schob sie sich ins Freie und baute sich vor ihm auf. Die Augen des Mannes waren mandelförmig, tiefbraun, warm und im Moment überschattet von Müdigkeit, aber sie wirkten keinesfalls blicklos.
Elisabeth hatte viele Blinde gesehen. Sie lungerten ja zu Dutzenden auf den Marktplätzen und vor den Kirchen herum. Geblendete, oder Leute, denen der Star gestochen worden war und die trotzdem ihr Augenlicht verloren hatten. Ihre Pupillen waren meist milchig, und ihre Gesichter misstrauisch und verängstigt. Dieser Mann dagegen schien völlig gelassen zu sein.
»Alles gesehen?«
Sie errötete. »Ihr seid nicht blind. Ihr habt mich in die Höhle gezogen.«
»Du hast davorgestanden. Und geatmet wie ein Wal.«
»Ich hätte einer der Raubmörder sein können. Wie konntet Ihr sicher sein ...«
»Jäger weinen nicht.«
»Ich habe nicht geweint.«
Der Mann lächelte. Er hatte ein einnehmendes Gesicht, trotz der Brandnarbe. Willensstark und lebhaft. »Bring mich in die Stadt, ist das möglich?«
»Wie habt Ihr die Höhle gefunden? Wie seid Ihr bei dem Überfall entkommen?«
»Lässt sich die Inquisition mit einem Geldstück vermeiden? «
»Entschuldigt.« Er hatte sie gerettet. Das stand fest. Sie sah, dass er Kratzer an Stirn und Wangen und an fast jeder bloßen Stelle seines Körpers hatte. In seinem Haar steckten Kiefernnadeln. Dass seine Ärmelspitzen zerrissen waren, hatte sie ja schon festgestellt. Er war also tatsächlich durch das Unterholz geflüchtet.
»Blind heißt nicht taub und nicht lahm und nicht dumm und ... nicht mit einem Überfluss an Zeit gesegnet«, erklärte der Fremde plötzlich ungeduldig. »Komm näher.« Elisabeth griff nach seinem Arm, aber er schob ihre Hand fort und tastete nach ihrer Schulter. »Wie heißt du?«
»Elisabeth.«
»Gut, dann ... Es tut mir leid, Elisabeth, was dir widerfahren ist. Es tut mir auch leid, dass du jetzt nicht einfach davonrennen ...«
»Ich brauche niemandem leidzutun!«
Sie sah, dass er sich auf die Lippe biss. Dann lachte er plötzlich. »Touché, junge Dame. Hören wir also auf, einander mit Mitleid und Ähnlichem auf die Nerven zu gehen. Und sehen wir zu, dass wir diesen unwirtlichen Ort verlassen.«
Hans Lippold war Hauptmann einer dreißigköpfigen Räuberbande, die sich auf das Brandschatzen einsam gelegener Höfe und auf Kirchendiebstähle spezialisiert hatte. Über Monate hinweg hatte er die Landjäger, die ihn fangen wollten, abgeschüttelt, und als Krönung seiner Untaten hatte er die Tochter des Alfelder Bürgermeisters entführt, sie zu seiner Räuberhure gemacht und sie geschwängert. Aber dann war ihm der Boden unter den Füßen zu heiß geworden, und nun hatte man ihn in der Nähe von Braunschweig gesichtet, wo er sich angeblich niedergelassen hatte.
Hier, irgendwo hier, dachte Elisabeth und hatte Mühe, gegen die Furcht anzukämpfen, die ihr die Brust umklammerte. Am Himmel funkelten Sterne, die sie aber kaum wahrnahm. Sie eilte, eingehüllt in ihren Mantel, einen einsamen Weg entlang, der östlich des Braunschweiger Landwehrwalls durch einen Wald führte. Seit einer halben Stunde hatte sie kein Gebäude mehr zu Gesicht bekommen.
Braunschweig war groß, und die Wälder und Äcker, die die Stadt umgaben, schier unüberschaubar. Kaum anzunehmen, dass sie den Mordgesellen hier begegnen würde. Trotzdem konnte sie die Gedanken an Lippold und seine Bande nicht verdrängen. Vor allem wegen der Knöchelchen. Marga hatte das Gerücht vom Markt mitgebracht und brühwarm weitererzählt: Lippold hatte die Kinder, die ihm die Bürgermeistertochter gebar, erwürgt und ihre Leichen in die Baumkronen gehängt. Wenn dann der Wind durch ihre Gebeine fuhr und an den Knöchelchen riss, hatte er zu der unglücklichen Mutter gesagt: Hör nur, wie unsere Kindlein singen. Dieser schreckliche Satz hatte sich in Elisabeths Hirn eingebrannt. Hör nur, wie unsere Kindlein singen. Marga hatte ihn mehrere Male wiederholt, so empört war sie gewesen. Und nun war es, als wimmerten die dünnen Stimmchen im Geäst und als jammerten sie aus sämtlichen Büschen. Stumm verfluchte Elisabeth Margas Neigung zu Schauergeschichten. Ging sie diesen Weg nicht schon zum fünften Mal? Und noch nie hatte sie etwas Unheimlicheres gesehen als einen Wolf oder Fuchs, die flohen, sobald sie ihrer ansichtig wurden. Knöchelchen!
Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf den Weg zu richten. Das Mondlicht machte Äste, Bodensenken und Teile des Gebüschs am Wegrand sichtbar. Sie sah kleines Getier vorbeihuschen, und konnte, wenn das Licht günstig fiel, sogar einzelne Blätter im schwarzen Buschwerk erkennen. Der Landwehrwall, das Verteidigungswerk, das die Stadt in einem großzügigen Abstand von mehreren Meilen umringte, tauchte immer wieder zwischen den Bäumen auf. Im Grunde war dieses Stück Wald sicherer als die Braunschweiger Gassen, in denen es von Beutelschneidern nur so wimmelte.
Unbewusst tastete ihre Hand nach der Brust. Denn das war die andere Sache. Sie trug etwas unter dem Mieder, das einen Mann wie Lippold sofort auf ihre Fersen gesetzt hätte: Blattgold - fünfzehn hauchdünn gehämmerte Quadrate, sechs mal sechs Zoll groß, die in einer flachen Holzschachtel steckten.
Berthold Stammer, der Mann, den sie liebte, war aus Osnabrück nach Braunschweig geritten und hatte ihr heimlich diesen Schatz zugesteckt. Denn er hatte sich nicht von ihr losgesagt - trotz der Schande, die Vater über sie gebracht hatte. Nachdem Großvater sie aufgenommen hatte, hatte sie ihm eine Nachricht übermitteln können, wo sie jetzt wohnten, und da war er gekommen. Und hatte ihr angeboten, ihr Gold zu überlassen, um damit Spiegelrahmen zu verzieren. Diese Rahmen verkaufte Berthold weiter und gab ihr den Gewinn. Elisabeth sparte die Münzen, um Christian, ihrem Bruder, eine Lehre bezahlen zu können. Und - wer weiß - vielleicht sogar Marga eine Mitgift. Du kannst dich auf mich verlassen, Mutter!
Sie lächelte einen Moment und klopfte auf die Holzschachtel. Nicht weit entfernt - kurz vor dem Gliesmaroder Tor - hatte ein Feuer einen Teil der Dornenhecke niedergebrannt, die den Landwehrwall schützte. Dort würde sie sich hindurchzwängen. Dann würde der Torwächter, den sie mit einigen Pfennigen bestochen hatte, sie in die Stadt zurücklassen. Und in spätestens einer Stunde - lange bevor Großvater und die anderen erwachten - war sie wieder zu Hause.
Während sie noch diesem erfreulichen Gedanken nachhing, drang plötzlich ein Schrei durch den Wald. Ein schrilles Geräusch, das die Nacht durchschnitt und sich anhörte, als brüllte ein Mensch in höchster Not oder größtem Schmerz auf. Sie blieb wie angewurzelt stehen und horchte. Aber der Schrei war schon wieder verklungen, und einen Moment fragte sie sich, ob sie ihn sich wie das Singen der Säuglingsknochen nur eingebildet hatte. Nervös zog sie die Kapuze ihres schwarzen Wollmantels über die blonden Haare.
Und dann hörte sie etwas, das viel schlimmer als ein Schrei war. Nämlich Männerstimmen, die sich ihr von einem Seitenweg aus näherten.
Rasch flüchtete sie ins Unterholz. Sie kauerte sich hinter einen Busch voller Blätter und Dornen, raffte mit hämmerndem Herzen den schwarzen Mantel um ihr Kleid, bis er den helleren Stoff bedeckte, und wartete. Fieberhaft suchte sie mit den Augen die Dunkelheit ab. Aber nichts rührte sich, und auch das Gespräch war wieder verstummt. Vielleicht hatten die Männer einen anderen Weg eingeschlagen? Sie biss sich auf die Lippe, duckte sich noch tiefer und versuchte sich vorzustellen, was die Leute um diese Zeit in den Wald geführt haben mochte. Nichts davon gefiel ihr. Lippold?
War es vielleicht wirklich Lippold? Sie merkte, wie ihre Füße zu kribbeln begannen. Wie spät es wohl war? Die Wache des Mannes, den sie bestochen hatte, endete um Mitternacht. Wenn sie ihn verpasste, würde sie erst am Morgen nach Hause zurückkehren können. Und dann setzte es Fragen, die sie lieber nicht beantworten wollte. Die Männer waren fort, nicht wahr?
Umständlich richtete sie sich wieder auf, rieb den eingeschlafenen Fuß an der Wade und kehrte auf den Pfad zurück. Niemand war zu sehen, keine Menschenseele weit und breit. Sie lächelte verzerrt. Vorsichtig folgte sie dem Weg, bis er eine Biegung machte. Und zauderte erneut. Baumkronen verdeckten hier den Himmel, und das Stück Weg, das vor ihr lag, was stockdunkel. Vergeblich versuchte sie, die Finsternis mit den Augen zu durchdringen. Und dann waren die Stimmen plötzlich wieder da, und zwar hinter ihr und dieses Mal so nah, als säßen ihr die Kerle direkt im Nacken. Elisabeth flüchtete ins Unterholz zurück, blieb aber nicht stehen, sondern rannte weiter.
»Hey, da ist er!«, hörte sie jemanden schreien.
»Los, hinterher. Dreckskerl! Wir kriegen dich!«, brüllte eine böse, tiefe Stimme.
O Herrgott, lass das nicht zu, erbarme dich ... Ihr Mantel verfing sich im Gestrüpp, und sie musste daran reißen, um weiterzukommen. Zweige brachen unter ihren Füßen, und die Blätter raschelten wie Seidenkleider. Sie machte einen Höllenlärm. Der Wald schien plötzlich lebendig geworden zu sein. Die Sträucher schnappten nach ihren Kleidern, und Luftwurzeln brachten sie zum Stolpern.
»Ich ss...eh nichts«, rief einer ihrer Verfolger. Sie erstarrte und drehte den Kopf. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war einer der Männer ihr bedrohlich nahe gekommen.
»Und ich sag: Er ist hier! Ein Gulden obendrauf für den, der ihn schnappt.«
»Und zwei für den, der ihm die Kehle durchschneidet.« Das war wieder die tiefe, böse Stimme. »Ist deine Schuld! Wir hätten nur warten müssen!«
»Scheiß drauf !«
»Ja, schsch...eiß, aber ohne den geh ich nicht zurück, das ssag ich euch. Hitzel wwwird wütend, wenn wir ihm sagen, dass er uns durch die Lappen ist. Hhhört ihr was?«
Elisabeth konnte kein Glied rühren. Eine Welle aus Angst spülte durch ihren Körper. Die Männer waren mindestens zu dritt. Und wenn sie sie einkreisten? Und wenn das vielleicht schon geschehen war? Ihr Kopf flog herum, aber hier im Unterholz, unter den dichten Laubkronen, war es so dunkel, dass sie nichts sehen konnte, was weiter als eine Armlänge entfernt war. Sie stand bis zu den Waden in den verrottenden Blättern. Es war unmöglich, einen lautlosen Schritt zu tun. Sollte sie sich einfach niederducken? Doch selbst das würde jemand, der lauschte, hören. Halb verrückt vor Angst, wollte sie ihren Mantelstoff von einem Dornenzweig befreien, in dem er sich verhakt hatte. Sie zupfte am Stoff...
Und wurde am Arm gepackt.
Wären ihre Kiefer nicht im Bemühen, jeden Laut zu unterdrücken, völlig verkrampft gewesen, hätte sie jetzt wohl aufgebrüllt. Die Hand zog sie mit festem Griff einige Schritte weit in eine noch tiefere Dunkelheit. »Psst.« Jemand presste sie an sich und umschlang sie mit beiden Armen, jedoch ohne ihr dabei weh zu tun. Sie musste in eine Höhle geraten sein.
»Ich hab ihn gesehen, verdammt. Gerad eben noch.« Das war die dunkle, böse Stimme.
Der Stotterer lachte. »Oo...der des Teufels Großmutter.«
»Halt die Schnauze!«
Blätter raschelten. Elisabeth hielt den Atem an. Um sie herum roch es nach Feuchtigkeit und Erde, nach Urin und Stalldreck. An ihrer Hand klebte etwas wie Spinnweben. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Spalt, der eine Winzigkeit heller als der Rest ihrer Umgebung war - den Zugang zu der Höhle, in die man sie gezogen hatte.
»Nun lärmt doch nicht so!«, fauchte die dunkle, böse Stimme.
»Aa...ber vielleicht ...«
»Er kann nicht weit sein. Wir müssen horchen«, wurde der Stotterer angeblafft.
Der Mann, der Elisabeth festhielt, roch schwach nach Parfüm. Sein Wams war weich - vielleicht aus Samt, dachte sie. Er schien mit den anderen nichts zu tun zu haben. Ein Retter. Ein von Gott gesandter Engel, dachte sie, und musste an sich halten, nicht nervös aufzulachen. Gott sandte seine Engel nicht zu gewöhnlichen Menschen. Und gewiss nicht zu einer wie ihr, die den eigenen Vater hasste und den Großvater, der sie aufgenommen hatte, fast ebenso. Nein, es musste sich um einen Kaufmann handeln, oder einen ähnlich reichen Menschen, den die Strauchdiebe überfallen hatten. Er hatte sich hierhergeflüchtet, und die Männer hatten ihn verfolgt. Und sie selbst war dummerweise zwischen die Fronten geraten. Gott, lass nicht zu, dass ich hier sterbe ...
»Ich weiß, dass er hier ist«, murrte die dunkle, böse Stimme schließlich. »Er war vor mir. Ich hatt ihn so gut wie gekrallt, den Scheißer!«
»Du hättest ihn gar nicht erst entkommen la...assen dürfen «, mäkelte der Stotterer. »Hi...itzel wird das nicht ...« »Hörst du?«
Der Stotterer musste nicht fragen, was sein Kumpan meinte. Wieder gellte ein Jammerlaut durch die Nacht.
»Er lässt den Kutscher brennen«, hauchte einer der Männer.
»A...aaber das muss er nicht. Wir ha...am doch alles, was wir wolln.«
Die böse Stimme lachte. »Er tut's auch nicht, weil er muss, sondern weil's ihm Spaß macht, du Ratte!«
»A...aaber er muss doch gar nich!« Der Stotterer klang, als wollte er in Tränen ausbrechen. Die Männer waren jetzt so nah herangekommen, dass ihre Körper den Eingang verdunkelten. Ein schieres Wunder, dass ihnen der Spalt verborgen blieb.
»Wenn du keinen Ärger willst«, flüsterte die dunkle, böse Stimme hämisch, »dann sag ihm in dieser Stimmung lieber nich, was er muss oder nicht muss.«
Ein weiterer Schrei. Dieses Mal schien er gar nicht mehr enden zu wollen. Er wurde schriller und immer qualvoller, und Elisabeth krallte die Finger in den Samt des Fremden. »Psst«, flüsterte der Mann, es war nur ein Hauch in ihrem Haar. Er drehte behutsam ihr Gesicht und drückte ihr Ohr gegen seine Brust, so dass der Schrei zwischen seiner Hand und dem Stoff seiner Kleider verklang. Sie spürte den Schlag seines Herzens und seine Finger, die beruhigend über ihren Kopf strichen. Der Schrei war doch nicht verstummt. Mit einem Mal hörte Elisabeth ihn wieder, aber auf seltsame Weise. Er kam jetzt nicht mehr von außen, sondern schien durch ihren Kopf zu gellen. Und plötzlich sah sie auch die Bilder eines Mannes, den man verbrannte. Eine Puppe, die in einem Scheiterhaufen hüpfte. Einen roten, mitleiderregenden Feuertänzer.
»Psst«, hauchte der Fremde und strich durch ihr Haar ...
Als Elisabeth ihre Umgebung wieder bewusst wahrzunehmen begann, saß sie auf einem steinigen, unebenen Boden, mit dem Rücken gegen eine Felswand gelehnt. Morgenlicht fiel in einem dünnen Strahl auf den Boden vor ihren Füßen und beschien schwarze Krümel - wahrscheinlich Mäusedreck. Eine Zeitlang war sie zu benommen, um sich zu erinnern, wo sie war. Dann fiel ihr die Nacht wieder ein, und ihr Magen verkrampfte sich. 22 Und von einem Moment auf den nächsten war alles wieder da: der Feuertänzer ... die Schreie ... seine zuckenden Glieder in den Flammen ...
Entsetzt presste sie die Fäuste auf die Ohren, aber das half überhaupt nichts. Es war, als hätte sich der Schrei in ihrem Kopf gefangen. Als hätte man einen Vogel vom Himmel geholt und in einen Käfig gesperrt. Und die Stäbe des Käfigs bestanden aus brennenden Menschen.
Jemand sprach. Es dauerte eine Weile, bis sie es überhaupt merkte. Der Mann. Der Mann, der sie in die Höhle gezogen hatte. »Alles gut?«
Der Klang seiner Stimme vertrieb die Schreie. Auch die Bilder verblassten.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Die Kerle sind fort, schon vor Stunden, noch in der Nacht. Niemand wird dir etwas tun.«
Elisabeth nahm die Hände von den Ohren, biss auf ihr Daumengelenk und starrte auf ihre schwarzen Schnürschuhe und den Saum ihres Mantels, der sich über den Schuhen kräuselte. Sie hätte sich gewünscht, dass der Mann mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme weitersprach, aber er fand offenbar, dass alles gesagt war. Heilige Jungfrau, ich danke dir. Sie flüsterte hastig ein Gebet. Gott hatte sie erhört. Sie lebte. Sie hatte das entsetzliche Ereignis der vergangenen Nacht heil überstanden.
Ihre Blicke wanderten durch die Höhle. Nicht alle Wände waren aus Fels. Über ihr hatten sich Baumwurzeln durch Erde gebohrt. Ein in Jahrhunderten entstandenes natürliches Versteck. Möglicherweise hausten hier Eulen, denn zwischen dem Mäusedreck lagen Federn und Gewölle. Sie rappelte sich steif auf und wischte den Schmutz von ihren Kleidern.
Der Mann hatte sich mit dem Rücken zu ihr an den Fels am Höhleneingang gelehnt und schaute ins Freie. Sie starrte auf seinen Hinterkopf. Er hatte dichtes, braunes, lockiges Haar, das er etwas länger trug, als es Mode war. Über dem schwarzsamtenen Wams hing ein weißer Spitzenkragen, und auch aus den Ärmeln quollen feinste Spitzen, die aber zerrissen waren. Er sah gut aus, nicht nur wegen seiner feinen Kleider. Die meisten Mädchen hätten sich nach ihm umgeschaut. Außer, sie haben ein Jahr lang auf der Straße gelebt und mitbekommen, was sich hinter dem Äußeren verbirgt, dachte Elisabeth bitter. Wie die Kerle waren, wenn sie sich einer Frau gegenübersahen, die keinen Beschützer an der Seite hatte. Berthold war anders, zum Glück. Doch die meisten Männer ... »Ihr hättet mich wecken können«, sagte sie spröde.
Der Fremde rührte sich nicht.
Verstohlen griff Elisabeth nach ihrer Holzschachtel. Sie befand sich immer noch unter dem Mieder, wie sie erleichtert feststellte. Das war das Wichtigste. Sie hatte ihr Gold behalten. Der Mann, den sie gebrannt hatten, tat ihr leid, aber er ging sie nichts an. Nach dem Winter auf der Straße ging sie überhaupt nichts mehr etwas an, außer Marga, Christian und sie selbst. Und wem das hartherzig vorkam, der wusste eben nicht, wie es im Leben zuging.
Zögernd trat sie neben den Fremden. Hatte er sie vor dem Tod bewahrt? Oder hatte er nur versucht, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, als er sie in die Höhle zog? Widerstrebend gestand sie sich ein, dass er ihr wohl hatte helfen wollen. Wenn das Raubgesindel sie erwischt hätte, hätten sie ihn vielleicht in Ruhe gelassen. Ich muss ihm danken, dachte Elisabeth. Aber sie hasste Dankbarkeit. Dankbar sein zu müssen hieß, einzugestehen, dass man schwach gewesen war, und wer schwach war, ging unter. Das war eine weitere Lehre, die sie aus dem Hungerwinter gezogen hatte.
»Danke«, stieß sie hervor.
Der Mann lächelte kurz, schaute sie dabei aber nicht an. Sein Blick hing an den Büschen, die im Morgentau glänzten und wahrhaftig nichts boten, das irgendein Interesse gerechtfertigt hätte.
Elisabeth räusperte sich. »Der, den sie ... den sie gebrannt haben ... Er ist wohl tot?«
»Das wünsche ich ihm.«
Elisabeth blickte in sein Gesicht. Der Fremde hatte einen Grund, die Haare länger als üblich zu tragen. Über seine linke Gesichtshälfte zog sich Narbengewebe, wohl von einer Verbrennung. Noch ein Feuertänzer, dachte sie. Sie schämte sich, als sie merkte, dass sie ihn anstarrte. Hastig blickte sie ebenfalls ins Gebüsch. Die Erde davor war niedergetreten. Dort mussten die Mordgesellen gestanden haben, als sie nach ihr suchten. Dort hatten sie den Schreien des Mannes gelauscht, den dieser Hitzel marterte, um dann ...
»O gütige Jungfrau«, stieß sie entgeistert hervor.
»Was denn?«
»Ich bin eingeschlafen. Ich ... ich kann mich nicht daran erinnern, wann die Männer gegangen sind. Ich ... bin eingeschlafen. « Sie hörte das Erschrecken in ihrer eigenen Stimme. Ganz in ihrer Nähe war ein Mensch zu Tode gequält worden, und sie war darüber selig eingeschlummert. Sie besaß so viel Mitgefühl wie ein Stück Vieh.
»Man kennt es aus dem Krieg.«
»Was?«
»Ein Araber hat mir davon erzählt, aus Tunis«, sagte der Mann. »Er hat es auf Kriegszügen beobachtet. Einige Menschen schlafen ein, kurz bevor die Schlacht beginnt. Nicht weil sie betrunken wären oder feige. Einfach so. Es ist eine Narretei der Natur.«
»Ah ja.« Marga würde ihn auslachen. Sie würde ihm erklären, dass ihre Schwester durch ihr Unglück eben nicht demütig geworden war, wie es einem gottesfürchtigen Menschen zukam, sondern herzlos. Und genau so war's ja auch. »Findet Ihr den Weg aus dem Wald heraus?«, fragte sie den Fremden, um die Stille zu durchbrechen.
»Nein«, sagte der Mann.
»Es ist ganz einfach. Seht Ihr, dort drüben, wo die Büsche niedriger ...«
»Ich bin blind.«
»Was?« Sie starrte ihn an. Und wusste, dass er log. Er war dem Überfall entkommen. Das allein bewies, dass er nicht blind sein konnte. Und er hatte sie in der Dunkelheit gesehen und in die Höhle gezogen. Nur wusste sie keinen Grund, warum er ihr etwas vorflunkern sollte. Vorsichtig schob sie sich ins Freie und baute sich vor ihm auf. Die Augen des Mannes waren mandelförmig, tiefbraun, warm und im Moment überschattet von Müdigkeit, aber sie wirkten keinesfalls blicklos.
Elisabeth hatte viele Blinde gesehen. Sie lungerten ja zu Dutzenden auf den Marktplätzen und vor den Kirchen herum. Geblendete, oder Leute, denen der Star gestochen worden war und die trotzdem ihr Augenlicht verloren hatten. Ihre Pupillen waren meist milchig, und ihre Gesichter misstrauisch und verängstigt. Dieser Mann dagegen schien völlig gelassen zu sein.
»Alles gesehen?«
Sie errötete. »Ihr seid nicht blind. Ihr habt mich in die Höhle gezogen.«
»Du hast davorgestanden. Und geatmet wie ein Wal.«
»Ich hätte einer der Raubmörder sein können. Wie konntet Ihr sicher sein ...«
»Jäger weinen nicht.«
»Ich habe nicht geweint.«
Der Mann lächelte. Er hatte ein einnehmendes Gesicht, trotz der Brandnarbe. Willensstark und lebhaft. »Bring mich in die Stadt, ist das möglich?«
»Wie habt Ihr die Höhle gefunden? Wie seid Ihr bei dem Überfall entkommen?«
»Lässt sich die Inquisition mit einem Geldstück vermeiden? «
»Entschuldigt.« Er hatte sie gerettet. Das stand fest. Sie sah, dass er Kratzer an Stirn und Wangen und an fast jeder bloßen Stelle seines Körpers hatte. In seinem Haar steckten Kiefernnadeln. Dass seine Ärmelspitzen zerrissen waren, hatte sie ja schon festgestellt. Er war also tatsächlich durch das Unterholz geflüchtet.
»Blind heißt nicht taub und nicht lahm und nicht dumm und ... nicht mit einem Überfluss an Zeit gesegnet«, erklärte der Fremde plötzlich ungeduldig. »Komm näher.« Elisabeth griff nach seinem Arm, aber er schob ihre Hand fort und tastete nach ihrer Schulter. »Wie heißt du?«
»Elisabeth.«
»Gut, dann ... Es tut mir leid, Elisabeth, was dir widerfahren ist. Es tut mir auch leid, dass du jetzt nicht einfach davonrennen ...«
»Ich brauche niemandem leidzutun!«
Sie sah, dass er sich auf die Lippe biss. Dann lachte er plötzlich. »Touché, junge Dame. Hören wir also auf, einander mit Mitleid und Ähnlichem auf die Nerven zu gehen. Und sehen wir zu, dass wir diesen unwirtlichen Ort verlassen.«
... weniger
Autoren-Porträt von Helga Glaesener
Helga Glaesener, geb. 1955 in Niedersachsen, studierte in Hannover Mathematik. 1990 begann die Mutter von fünf Kindern mit dem Schreiben historischer Romane, von denen gleich das Debüt zum Besteller avancierte. Sie lebt in Oldenburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Helga Glaesener
- 2011, 459 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: List
- ISBN-10: 3471300074
- ISBN-13: 9783471300077
Rezension zu „Die Vergolderin “
»Zeichnet sich aus durch historiografische Genauigkeit, eine spannende Dramaturgie und nicht zuletzt durch die überzeugende Charakterisierung der ebenso lebensnahen wie energischen Heldin.« Buchjounal, Alice Werner, 02/11
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