Fleisch ist mein Gemüse
Eine Landjugend mit Musik. Das Buch zum Film. Originalausgabe
Das eigenwillige Erinnerungsbuch "Fleisch ist mein Gemüse" ist einer der großen Überraschungserfolgeder letzten Jahre. Nach Hörbuch, Hörspiel und Bühnenstück wird die Geschichte von Heinz und seiner...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Fleisch ist mein Gemüse “
Das eigenwillige Erinnerungsbuch "Fleisch ist mein Gemüse" ist einer der großen Überraschungserfolgeder letzten Jahre. Nach Hörbuch, Hörspiel und Bühnenstück wird die Geschichte von Heinz und seiner Schützenfest-Kapelle nun endlich mit großem Aufwand für die Leinwand verfilmt.
Das Buch zum Filmversammelt neben dem Roman zahlreiche Bilder, Texte und Informationen.
Klappentext zu „Fleisch ist mein Gemüse “
Geil abgeliefertWie es ist, in Harburg aufzuwachsen, das weiß Heinz Strunk genau. Harburg, nicht Hamburg. Mitte der 80er ist Heinz volljährig und hat immer noch schreckliche Akne, immer noch keinen Job und immer noch keinen Sex. Doch dann wird er Bläser bei Tiffanys, einer Showband, die auf den Schützenfesten zwischen Elbe und Lüneburger Heide spielt. Aber auch das Musikerleben hat seine Schattenseiten: Statt Sex, Drugs and Rock'n'Roll gibt es trostlose Auftritte in schlecht sitzenden rosa Glitzersakkos bei Dorfhochzeiten, missglückte Annäherungsversuche ans andere Geschlecht und sehr fettes Essen - der Mensch ist schließlich kein Beilagenesser.
Mit "Fleisch ist mein Gemüse" gelang Heinz Strunk ein Bestseller. Jetzt spielt er erfolgreich in der Verfilmung seines eigenen Buches mit. Der vorliegende Band präsentiert den originalen Text, dazu zahlreiche Fotos, Interviews und Materialien - auch aus Strunks Privatarchiv.
Lese-Probe zu „Fleisch ist mein Gemüse “
Fleisch ist mein Gemüse von Heinz Strunk LESEPROBE Eine Landjugend mit MusikDas Buch zum FilmRowohlt Taschenbuch Verlag Inhalt1985 Im Zwergenhaus | 7Ich mach ein glückliches Mädchen aus dir | 16Viel Afrika und wenig Bavaria | 22Eiappetit | 36Sozialamt Hamburg-Harburg | 39Lehrjahre sind keine Herrenjahre | 40Acne Conglobata | 44Fleisch ist mein Gemüse | 481986 Zeit der Prüfungen | 55Revolutionäre Massen | 59
... mehr
Schorsch | 79Papperlapub | 82Uniformen Heinemann | 88Willen und Knochen, beides wird gebrochen | 90Merkur disc 2 | 941987 Synaptischer Spalt | 1011988 Deutsches Haus | 117Irgendwie traurig | 122Die Jungschützenkönigin | 124Schutzfohlen | 1291989 Stars | 133Wiedervereinigung in Brunsbüttel | 138Glawes 1990 I 157 Der Pate I 161 Wachablösung I 166 Die Bombe 1991 I 171 Alle anderen ja, ich nein 1992 I175
Faslam 1993 I 183
Maxipower I 191Peter Black I 193 Geisterstadt 1994 I 197 Aussichten I 200
Frisches Blut I 206
Swingtime is good time 1995 I 213 Mama I 216 Marek 1996 I 223 Das weiße Hemd I 225 Jens im Glück I 230 Taubenplage I 232 Sag zum Abschied leise Servus 1997 I 245 Auf Wiedersehen, bleib nicht zu lange fort! I 251 Fleisch ist mein Gemüse - Der Film I 257 Im Zwergenhaus
Ich hatte Mutter versprochen, endlich unseren winzigen Rasen zu mähen, und nun mühte ich mich an diesem brüllend heißen Augustnachmittag 1985 mit den Kanten ab. Bevor ich mir die gesamte Fläche vornahm, trimmte ich immer zuerst penibel die Rasenkanten. So richtig toll wurde es nicht, aber das war nicht meine Schuld, sondern die meines verstorbenen Großvaters, der zu Lebzeiten jede handwerkliche Eigeninitiative seines Enkels mit der Bemerkung Zwei linke Hände und lauter Daumen zu ersticken pflegte. Der alte Despot hatte lieber alles selber gemacht, weil es ihm bei mir zu langsam ging. Die Spätfolgen seiner pädagogischen Konzeptlosigkeit konnte er jetzt posthum besichtigen. Es war ein Trauerspiel. Das Blut schoss mir über der harten körperlichen Arbeit in den Kopf und weiter in jeden einzelnen meiner Pickel. Ich war dreiundzwanzig und litt seit nunmehr elf Jahren an Acne Conglobata, der schlimmsten Form dieser elenden Hauterkrankung, die unbehandelt auch NIEMALS besser wird. Pusteln mit oder ohne Eiterhaube, Mitesser und tief in der Haut verankerte Flechten bedeckten Gesicht, Nacken, Rücken und Schulter. Die Pickel wirkten irgendwie gar nicht mehr wie Pickel, sondern wie etwas viel Schlimmeres, sie wirkten wie eine unbekannte Weltraumkrankheit. Ich sah aus wie eine Versuchsperson, bei der die Tests schief gelaufen waren. Im Sommer sah es immer besonders schlimm aus, da ich mich vor Scham schon seit Jahren nicht mehr der Sonne ausgesetzt hatte und komplett ausgeblichen war. Die roten Aknehörner setzten sich auf meiner kalkweißen Haut deutlich ab und waren schon von weitem gut zu erkennen. Nach einer erfolglosen Endlosschleife im therapeutischen Bermudadreieck Vitamin-A-Säure, Breitbandantibiotika und Eigenblutbehandlung hatte ich die Akne als Schicksal angenommen und wartete einfach mal so ab. Vielleicht würde sich alles ganz plötzlich und unerwartet ändern, denn das Leben schlägt ja die tollsten Kapriolen. Bis dahin hieß es geduldig ausharren und weiterhin fleißig Rasen mähen und Hecke stutzen. Ich war gerade fertig mit den elenden Kanten, als das Telefon klingelte. Mein entfernter Bekannter Jörg.
«Kurze Frage, kurze Antwort, ich hab ne Anfrage fürs übernächste Wochenende, hast du da Zeit?»
«Weiß ich im Moment nicht so genau, da muss ich in meinen Kalender gucken, wart mal einen Augenblick.» Ich blätterte ein bisschen im Telefonbuch. «Um was geht’s denn überhaupt?»
«Ne Tanzband aus Lüneburg, Tiffanys heißen die, die brauchen für übernächstes Wochenende noch nen fünften Mann.»
Jörg war ein ziemlich dröger Zeitgenosse. Sein Phlegma wirkte ansteckend, und schnell verfiel ich in denselben, monotonen Sprachrhythmus.
«Ich weiß im Moment auch nicht genau, du kannst denen ja meine Nummer geben.»
«Wart mal eben einen Augenblick, da kommt gerade ein Kunde.»
Jörg arbeitete in einem kleinen Musikgeschäft mit dem Namen Ohrenschmaus. Viele junge Männer, die in Musikaliengeschäften arbeiten, wären eigentlich lieber richtige Musiker und begreifen solche Tätigkeiten lediglich als Interimslösung. Doch meist reicht die Begabung nicht aus, und sie bleiben in diesen Jobs stecken bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, ein Schicksal, das auch Jörg drohte. Er hatte sich ausgerechnet die Bassgitarre ausgesucht, dass vermutlich unspektakulärste Instrument der Welt. Jeden Abend nach der Arbeit hockte er in seinem verschwitzten Jugendzimmer (er wohnte noch zu Hause) und versuchte, Kontrolle über den störrischen Viersaiter zu erlangen. Wenn es zum Gitarristen nicht langte, dann wurde man Bassist. Bei den Girls konnte man damit natürlich nicht punkten.
«Hallo, bist du noch dran?» Jörg hatte den Kunden offenbar erfolgreich vergrault. «Ich hab die Nummer hier. Du sollst den selber mal anrufen, der Typ heißt Gurki.»
«Was ist denn das für ein Name? Das klingt ja so wie Goofy in doof. Der heißt doch sicher auch richtig!»
«Mann, ich weiß auch nicht, wie der richtig heißt, ich soll das nur ausrichten. Ich hab jetzt auch keine Zeit. Soll ich dir die Nummer geben oder nicht? Mir ist das doch egal.» Seine Stimme klang kraftlos und aggressiv zugleich.«Ja, dann sag mal.»
Kaum hatte ich aufgelegt, fing ich an, albern im Flur rumzuhüpfen. Lieber Gott, danke, danke, danke! Die Nachfrage nach meiner Arbeitskraft tendierte im Allgemeinen gegen null, und Tanzmusik war schließlich besser als nix. Vor Aufregung rauchte ich erst einmal zwei Zigaretten hintereinander und
wählte dann mit feuchten Händen die Telefonnummer mit der Lüneburger Vorwahl.«Musikhaus Da Capo, Beckmann, guten Tag.»Statt Ohrenschmaus nun also Da Capo.
«Hallo, Heinz Strunk hier. Ich ruf an wegen der Mucke, ich würde gern Gurki sprechen.»«Der ist am Apparat.»«Ach so. Ich hab die Nummer von Jörg vom Ohrenschmaus.»
«Schön, dass du anrufst. Also, das geht um ein Schützenfest in Moorwerder, die wollen da dieses Jahr fünf Mann haben, am liebsten mit Saxophon.»«Ich spiel auch Flöte.» «Super. Der Mann ist gut, das hör ich schon, hehehe.»«Ja, hoffentlich.»«Und, Sonnabend und Sonntag, geht das bei dir?»
«Da ist gerade was ausgefallen, und jetzt kann ich wieder», log ich.
«Alles klärchen. Sonnabend sind sieben Stunden, von acht bis drei Uhr, und sonntags nochmal fünf Stunden, von acht bis eins.»«Normal.»
«Kennst du dich aus? Hast du schon mal Tanzmusik gemacht?»
Die Frage konnte ich bejahen. Ich hatte meine ersten Erfahrungen schon mit neunzehn in der Kapelle Holunder gesammelt. Meine vier Kollegen waren sympathisch abgehalfterte Typen um die vierzig. Jens, der Organist, Weinbrandtrinker alter Schule, hatte ein Gesicht, wie es nur hochprozentiger Alkohol im Laufe vieler Jahre zu schnitzen vermag. Er war einer der letzten reinen Organisten, d. h., er spielte keine Synthesizer und Keyboards, sondern eine wunderschöne alte Hammond B3 mit dem dazugehörigen Leslie. Geprobt wurde einmal die Woche in einem ehemaligen Luftschutzbunker. Er war wie alle
Bunker auf der ganzen Welt dunkel, feucht und roch nach verlorenem, altem Krieg. Der Übungsraum lag im fünften Stock. Dort schafften wir uns Deine Spuren im Sand, Hello, Mary Lou oder auch ein Walzermedley mit den schönsten Melodien von Johann Strauß drauf. Nach Feierabend aßen wir in der Kneipe gegenüber meist noch Currywurst mit Kartoffelsalat. Stumm wie ein Fisch saß ich im Kreis meiner erwachsenen Kollegen und hielt den Mund, wie es sich für junge Leute gehört. Wir hatten fast
jeden Samstag einen Job und mussten dann immer unsere tonnenschwere
Anlage die engen Treppen des Bunkers nach unten und morgens um fünf oder sechs wieder nach oben wuchten. Ich hatte große Angst um meine Wirbelsäule, denn ich war ja noch im Wachstum. Hans, der Schlagzeuger, fuhr das Bandauto, einen maroden Mercedes mit Anhänger. 99 Prozent aller schrottreifen Mercedesse mit Hänger, die am Wochenende die Autobahnen blockieren, sind mit Tanzbands besetzt, die gerade auf dem Weg zur Mucke sind. Auf jeder Rückfahrt war Hans besoffen; ein Wunder, dass wir nie erwischt wurden. Bei meiner allerersten Mucke im Herbst 1981 staunte ich nicht schlecht, als
plötzlich Kinder zum Bühnenrand kamen und nach Autogrammen fragten. Da brat mir doch einer nen Storch, die kennen mich gar nicht, und ich muss hier schon Autogramme geben! Ich schätzte daraufhin unseren Prominentenstatus falsch ein, denn es sollten die ersten und letzten Autogramme bleiben, die ich während meiner gesamten Tanzmusiklaufbahn geben musste. Nachdem wir ein Set mit When the saints beendet hatten, gingen die Kollegen zum Tresen, während ich unschlüssig auf der Bühne stehen blieb. Ein dickes Mädchen kam zur Bühne getrottet, blieb direkt vor mir stehen und beobachtete mich, ohne ein Wort zu sagen. Mir fiel auch nichts ein. Das eine Auge ihrer bunten Kinderbrille war mit einem Pflaster verklebt. Es vergingen sicher zwei Minuten, dann sagte sie: «Holunder, Holunder, die Welt wird immer runder.» Sie drehte sich um und schob ab. Das Mädchen sollte Recht behalten. Wegen irgendwelcher
Zwistigkeiten löste sich Holunder ein Jahr später auf, und ich blieb erst mal ohne weitere Engagements.
Ich sagte Gurki, dass ich bereits in drei Tanzbands gespielt hätte.
«Klingt doch gut. Wir probieren das einfach mal aus. Es gibt für beide Tage sechshundert, ist das in Ordnung für dich?»Meine Güte, sechshundert Mark, ein Geldregen!
«Ja, ist okay.» Ich bemühte mich, möglichst gleichgültig zu klingen.
«Alles klar, dann Sonnabend in einer Woche in Moorwerder auf dem Festplatz, das findest du schon. Kannst du gegen sechs Uhr da sein?»
«Äh, das ist gerade ein bisschen schwierig mit dem Hinkommen.»«Wieso, hast du kein Auto oder was?»
Ich hatte noch nicht einmal einen Führerschein, aber das wollte ich nun wirklich nicht zugeben. Mucker ohne Auto, so was gibt’s gar nicht.
«Doch, natürlich, aber mein Lappen ist gerade weg, die haben mich mit 150 in ner Autobahnbaustelle geblitzt.»
Geschwindigkeitsübertretung schien mir das Beste zu sein. Ich war eben ein Mensch, der es eilig hatte. Ich hätte natürlich auch sagen können: «Ich bin bei Rot über ne Ampel gefahren, und da stand noch jemand. Aber ich kann nichts dafür, weil ich besoffen war.» Na ja, besser nicht.
«Pass auf, dann wirst du vor dem Soundcheck abgeholt, so gegen halb sechs.»«Alles klar. Und wie ist es mit Klamotten?»
«Wenn du schwarze Hose, schwarze Schuhe und weißes Hemd mit Stehkragen mitbringen könntest, wär gut. Sakko und Fliege kriegst du von uns. Also dann, bis Samstag, frisch rasiert und gut gelaunt, hahaha.»«Hahaha, ja logisch. Tschöööös.»
Es gibt Orte, die sollte man früh verlassen, wenn man noch etwas vorhat im Leben. Der Hamburger Stadtteil Harburg liegt am falschen, dem südlichen Ufer der Elbe. Das schöne, große, eigentliche Hamburg ist auf der anderen Seite. In jeder Stadt gibt es richtige, weniger richtige und falsche Bezirke, und wenn man im falschen wohnt, sollte man damit nicht hausieren gehen.
Das weithin sichtbare Wahrzeichen Harburgs sind die 1856 gegründeten Phoenix-Gummiwerke. Wo andere Städte eine Burg oder einen Dom haben, steht mitten in Harburg dieses riesige Industrieareal. Schon als Kind hat mich die Phoenix fasziniert. Sie war irgendwie unwirklich und erinnerte an Fabriken in Stummfilmen von Fritz Lang. Der Weg zum Kindergarten führte mich jeden Tag an den geheimnisvollen Gemäuern vorbei, und ich habe mich oft gefragt, was da drinnen wohl vor sich geht. Harburg ist der langweiligste Ort der Welt, aber das ist ja auch schon wieder Quatsch, denn die Kasseler oder die Ulmer
beanspruchen das zu Recht auch für ihre Städte. In den siebziger Jahren eröffnete McDonald’s in Harburg eine der ersten Filialen in Deutschland, die sich sofort zum zentralen Treffpunkt sozial auffälliger Jugendlicher entwickelte. Kinder aus normalen Verhältnissen trauten sich schon bald nicht mehr dort hin, denn zum Cheeseburger gab’s von den halbstarken Schlägerbanden gleich noch gratis eins auf die Nuss, mindestens. Dann soll angeblich irgendwo das legendäre Harburger Schloss existieren, das aber noch nie ein Mensch zu Gesicht bekommen hat.
«Sag mal, das Harburger Schloss, wo ist das denn eigentlich nun genau?»«Weiß ich auch nicht. Aber irgendwo soll das sein.»
Weltberühmt geworden ist Harburg durch die Terroranschläge des elften September. Wer hätte das für möglich gehalten? In den Häusern, in denen ich jahrelang ein und aus gegangen war, hatten also die Top-Terroristen gewohnt! Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi, Ramzi Binalshib und wie sie alle hießen waren in den mir bekannten Straßen einfach so herumgelaufen und hatten bei Schlecker oder Eurospar wie jeder andere auch Seife oder Butter gekauft. Die Technische Universität, Harburger Chaussee Nr. 115, Marienstraße 54 und die Wilhelmstraße 30! Hier hat der Chef Mohammed Atta, ein
guter Koch, wie kolportiert wird, für sich und seine Mordbuben orientalische Spezialitäten gebrutzelt. Aber selbst diesen Ruhm musste Harburg abtreten, denn bald hieß es vereinfachend nur noch, die Terroristen hätten ihre Anschläge von Hamburg aus geplant. In einem der Außenbezirke bewohnte ich zusammen mit
meiner Mutter ein nur sechzig Quadratmeter großes Reihenhaus. Die Straßen der in den fünfziger Jahren erbauten Siedlung waren ausschließlich nach niedersächsischen Provinzkäffern benannt: Walsroder Ring, Celler Weg, Luhdorfer Stieg. Noch nicht mal Hannover war dabei! Wir wohnten im Bispinger Weg 7b. Irgendwie war alles eng und winzig. Straßen, Gärten, Häuser, ja selbst Bäume, Pflanzen und Haustiere wirkten eine Nummer kleiner als anderswo. Auch meine Kinderfreunde Peter Barsties und Walter Scherwath waren hier kleben geblieben. Peter hatte bereits mit zwanzig geheiratet und bewohnte mit seiner Frau ein eigenes Zwergenhaus. Er und Walter waren immer noch gut miteinander befreundet; ich hingegen wurde gemieden. Es herrschte damals in der Siedlung die einhellige Meinung, aus mir würde nichts Rechtes mehr werden. Peter und Walter hatten schon längst ihre Ausbildung beendet und standen erfolgreich im Berufsleben. Die Harburger Walter und Peter hatten eine auffällige Ähnlichkeit mit den echten Walter und Peter, den Söhnen des ewigen Oppositionsführers Dr. Helmut Kohl, der sich mit Hilfe
seines Erfüllungsgehilfen Genscher nun doch noch zum Bundeskanzler hochgemobbt hatte. Wie das die ersten Jahre immer klang: Bundeskanzler Kohl! Das passte irgendwie nicht,
denn eigentlich hieß der Bundeskanzler doch Schmidt, Helmut Schmidt! Allen war klar, dass Helmut Kohl nur ein Übergangskanzler sein konnte. Doch für den Moment hatte er zusammen mit Hannelore und den beiden Söhnen das Sagen. Meine Situation war ausgesprochen verfahren. Ich war bereits nach einem Monat bei der Bundeswehr ausrangiert worden, weil ich den rüden Ton nicht vertrug. Eine Falte im Bettzeug, und sofort wurde man niedergebrüllt. Einerseits war ich ungeschickt, andererseits verstand ich vieles auch einfach nicht. Was zum Beispiel war eigentlich genau das Koppelschloss?«sanitätssoldat strunk, hände vors koppelschloss!»
Nie wusste ich, was ich machen sollte, und ruderte deshalb hilflos mit den Armen. Ich war über 500 Kilometer entfernt von meiner norddeutschen Heimat in der Universitätsstadt Marburg stationiert worden. Das Straßenbild dominierten dort zwei Gruppen junger Leute: coole Studenten vornehmlich der
Geisteswissenschaften, die sich rauchend und Weißwein trinkend in Cafés herumfläzten und sich über die andere Gruppe, die uncoolen Bundeswehrasis aus der Tannenbergkaserne, lustig machten. Nach Dienstschluss stürzten die durch Stiernacken und Pisspottschnitt stigmatisierten Rekruten in der Stadt
aus lauter Verzweiflung schnell noch ein paar Halbe hinunter, um dann vor Erschöpfung und Angst halb wahnsinnig bereits gegen einundzwanzig Uhr in einen komatösen Schlaf zu fallen. Wir armen Sanitätssoldaten waren Menschen zweiter Klasse, Mörder in Uniform, stumpfe Prolls ohne politisches Bewusstsein. Wer nicht verweigerte, war das Letzte. Ich hatte aus Faulheit alle Fristen für die lästige Gewissensprüfung versäumt und musste mich nun ins Unvermeidliche fügen. Ein einziger Albtraum war jeden Sonntag die endlos lange Bahnfahrt vom ungefähr drei Subkontinente entfernten Harburg in die Kaserne zurück. Schrecklich, schrecklich, schrecklich, furchtbar, furchtbar, furchtbar. Ich war ein einziger Schweißausbruch. Im stets überfüllten Zug hockten im Gang die Soldatenzombies auf ihren unförmigen Reisetaschen und dämmerten mit toten Augen einer neuen Folterwoche entgegen. Je näher wir dem Quälcamp kamen, desto heftiger wurden meine Panikattacken. Die Tannenbergkaserne betrat ich jedes Mal als ein vor Todesangst schlotterndes Bündel Mensch, das seiner Auslöschung entgegensieht.
Hier gehörte ich doch nicht hin! Obwohl ich schon nach drei Wochen vollkommen am Ende war, hielt ich noch eine vierte Woche durch, bis mir schließlich beim morgendlichen Stubenappell die Tränen über die Wangen pullerten. Anstatt mich auf der Stelle zu erschießen, schickte mich der Zugführer zum Stabsarzt, und bereits drei Tage später durfte ich mit dem Befund endogene Depression für alle Zeiten dienstuntauglich die Tannenbergkaserne verlassen. Ich mach ein glückliches Mädchen aus dir. Tatsächlich litt ich bereits seit längerem unter Angst und Panikzuständen. Ausgelöst worden waren diese durch ein unausgegorenes Drogenexperiment mit achtzehn. Es hatte mich immer gewurmt, dass ich noch nicht einmal richtig stoned gewesen war, während sich meine damaligen Freunde mit den abenteuerlichsten Drogenerfahrungen übertrumpften. Nie konnte ich mitreden, denn die Joints schlugen bei mir einfach nicht an. In meiner Not ließ ich mich schließlich vom Drogenpapst der Schule zu einem riskanten Selbstversuch überreden: Ich löste eine große Portion Hasch in einer noch größeren Portion starken Bohnenkaffees auf und quälte mir die abscheulich schmeckende Plörre in großen Schlucken hinein. Nach ungefähr einer Stunde setzte schlagartig die Wirkung ein: Herzklopfen, Brustschmerz,
Schwindel und Erstickungsanfälle. Die typischen körperlichen Symptome einer Angstpsychose. Viel schlimmer jedoch waren die sekundären Folgen: Todesängste, Furcht vor Kontrollverlust und das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Nie wieder habe ich derartige Höllenqualen erlitten. Nachdem ich mehrere Stunden überzeugt gewesen war, endgültig den Verstand verloren zu haben, ließ die akute Wirkung in den frühen Morgenstunden nach. Doch offensichtlich war da ernsthaft etwas durcheinander geraten, denn ich wurde noch Monate später von abscheulichen Flashbacks heimgesucht. Daher meine Empfehlung: Hasch und Bohnenkaffee sollten unbedingt getrennt voneinander genossen werden! Auch meine Mutter schlug sich seit längerem schon mit einer schweren seelischen Erkrankung herum. Bei dieser so genannten schizo-affektiven Psychose wechselten sich manische mit depressiven Phasen ab, wobei die Ausschläge im Laufe der Jahre immer heftiger wurden. Hatte die manische Phase ihren Höhepunkt erreicht, schlief Mutter oft tagelang nicht mehr, litt unter starken halluzinatorischen Wahnerlebnissen, psychomotorischen und kognitiven Störungen. In diesem sich exponenziell beschleunigenden Irrsinn brannte sie wie eine Supernova, um schließlich im unendlich verdichteten schwarzen Loch der
Depression zu implodieren. Trotz kiloweise Psychopharmaka und Elektroschocks blieb sie oft monatelang im Kokon der Depression stecken. Die Psychose hatte sich im Laufe der Jahre als
eigenständiges Krankheitsbild verfestigt und war inzwischen unheilbar, obwohl das natürlich niemand zugeben wollte. Erbarmungslos verrichtete sie ihr Zerstörungswerk. Achgottachgott, und jetzt ich. Alles erblich. Vom Vater die Akne und von der Mutter das Verrückte. Meiner genetischen Bestimmung
würde ich nicht entrinnen können. Dabei war ich doch noch so jung. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass bis vierzig jeder durchhalten muss, dann kann er sich frei entscheiden. Aber wie sollte das gehen? Das hatte ich ja noch fast zwanzig Jahre vor mir!
Unsere Siedlung war offenbar der Humus, in dem psychische Defekte aller Art hervorragend gediehen, denn der nächste hoffnungslose Fall wohnte gleich nebenan, im Zwergenhaus zur Rechten. Rosemarie hauste dort seit dem Tod der Eltern zusammen mit ihrem Bruder Werner. Werner war das, was man landläufig grenzdebil nennt. Er hatte meines Wissens noch nie eine Freundin gehabt und sah aus, als ob man ihm über viele Jahre hinweg mit stumpfen Gegenständen unablässig auf den Kopf gehauen und seinen Schädel zusätzlich noch für mindestens zwei Jahre in einen Schraubstock gespannt hätte. Rosemarie teilte das Schicksal meiner Mutter: Seit Jahren arbeitsunfähig, vegetierte sie in ihrem Zimmer vor sich hin, rauchte filterlose Reval und hörte deutsche Schlager, insbesondere die ihres Lieblingsinterpreten Chris Roberts.
Ich bin verliebt in die Liebe, sie ist okay, hey, für mich, ich binverliebt in die Liebe und vielleicht auch in dich.
Du kannst nicht immer siebzehn sein, Liebling, das kannst du
nicht, aber das Leben wird dir noch geben, was es mit siebzehn dirverspricht. © Rowohlt Verlag GmbH
Faslam 1993 I 183
Maxipower I 191Peter Black I 193 Geisterstadt 1994 I 197 Aussichten I 200
Frisches Blut I 206
Swingtime is good time 1995 I 213 Mama I 216 Marek 1996 I 223 Das weiße Hemd I 225 Jens im Glück I 230 Taubenplage I 232 Sag zum Abschied leise Servus 1997 I 245 Auf Wiedersehen, bleib nicht zu lange fort! I 251 Fleisch ist mein Gemüse - Der Film I 257 Im Zwergenhaus
Ich hatte Mutter versprochen, endlich unseren winzigen Rasen zu mähen, und nun mühte ich mich an diesem brüllend heißen Augustnachmittag 1985 mit den Kanten ab. Bevor ich mir die gesamte Fläche vornahm, trimmte ich immer zuerst penibel die Rasenkanten. So richtig toll wurde es nicht, aber das war nicht meine Schuld, sondern die meines verstorbenen Großvaters, der zu Lebzeiten jede handwerkliche Eigeninitiative seines Enkels mit der Bemerkung Zwei linke Hände und lauter Daumen zu ersticken pflegte. Der alte Despot hatte lieber alles selber gemacht, weil es ihm bei mir zu langsam ging. Die Spätfolgen seiner pädagogischen Konzeptlosigkeit konnte er jetzt posthum besichtigen. Es war ein Trauerspiel. Das Blut schoss mir über der harten körperlichen Arbeit in den Kopf und weiter in jeden einzelnen meiner Pickel. Ich war dreiundzwanzig und litt seit nunmehr elf Jahren an Acne Conglobata, der schlimmsten Form dieser elenden Hauterkrankung, die unbehandelt auch NIEMALS besser wird. Pusteln mit oder ohne Eiterhaube, Mitesser und tief in der Haut verankerte Flechten bedeckten Gesicht, Nacken, Rücken und Schulter. Die Pickel wirkten irgendwie gar nicht mehr wie Pickel, sondern wie etwas viel Schlimmeres, sie wirkten wie eine unbekannte Weltraumkrankheit. Ich sah aus wie eine Versuchsperson, bei der die Tests schief gelaufen waren. Im Sommer sah es immer besonders schlimm aus, da ich mich vor Scham schon seit Jahren nicht mehr der Sonne ausgesetzt hatte und komplett ausgeblichen war. Die roten Aknehörner setzten sich auf meiner kalkweißen Haut deutlich ab und waren schon von weitem gut zu erkennen. Nach einer erfolglosen Endlosschleife im therapeutischen Bermudadreieck Vitamin-A-Säure, Breitbandantibiotika und Eigenblutbehandlung hatte ich die Akne als Schicksal angenommen und wartete einfach mal so ab. Vielleicht würde sich alles ganz plötzlich und unerwartet ändern, denn das Leben schlägt ja die tollsten Kapriolen. Bis dahin hieß es geduldig ausharren und weiterhin fleißig Rasen mähen und Hecke stutzen. Ich war gerade fertig mit den elenden Kanten, als das Telefon klingelte. Mein entfernter Bekannter Jörg.
«Kurze Frage, kurze Antwort, ich hab ne Anfrage fürs übernächste Wochenende, hast du da Zeit?»
«Weiß ich im Moment nicht so genau, da muss ich in meinen Kalender gucken, wart mal einen Augenblick.» Ich blätterte ein bisschen im Telefonbuch. «Um was geht’s denn überhaupt?»
«Ne Tanzband aus Lüneburg, Tiffanys heißen die, die brauchen für übernächstes Wochenende noch nen fünften Mann.»
Jörg war ein ziemlich dröger Zeitgenosse. Sein Phlegma wirkte ansteckend, und schnell verfiel ich in denselben, monotonen Sprachrhythmus.
«Ich weiß im Moment auch nicht genau, du kannst denen ja meine Nummer geben.»
«Wart mal eben einen Augenblick, da kommt gerade ein Kunde.»
Jörg arbeitete in einem kleinen Musikgeschäft mit dem Namen Ohrenschmaus. Viele junge Männer, die in Musikaliengeschäften arbeiten, wären eigentlich lieber richtige Musiker und begreifen solche Tätigkeiten lediglich als Interimslösung. Doch meist reicht die Begabung nicht aus, und sie bleiben in diesen Jobs stecken bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, ein Schicksal, das auch Jörg drohte. Er hatte sich ausgerechnet die Bassgitarre ausgesucht, dass vermutlich unspektakulärste Instrument der Welt. Jeden Abend nach der Arbeit hockte er in seinem verschwitzten Jugendzimmer (er wohnte noch zu Hause) und versuchte, Kontrolle über den störrischen Viersaiter zu erlangen. Wenn es zum Gitarristen nicht langte, dann wurde man Bassist. Bei den Girls konnte man damit natürlich nicht punkten.
«Hallo, bist du noch dran?» Jörg hatte den Kunden offenbar erfolgreich vergrault. «Ich hab die Nummer hier. Du sollst den selber mal anrufen, der Typ heißt Gurki.»
«Was ist denn das für ein Name? Das klingt ja so wie Goofy in doof. Der heißt doch sicher auch richtig!»
«Mann, ich weiß auch nicht, wie der richtig heißt, ich soll das nur ausrichten. Ich hab jetzt auch keine Zeit. Soll ich dir die Nummer geben oder nicht? Mir ist das doch egal.» Seine Stimme klang kraftlos und aggressiv zugleich.«Ja, dann sag mal.»
Kaum hatte ich aufgelegt, fing ich an, albern im Flur rumzuhüpfen. Lieber Gott, danke, danke, danke! Die Nachfrage nach meiner Arbeitskraft tendierte im Allgemeinen gegen null, und Tanzmusik war schließlich besser als nix. Vor Aufregung rauchte ich erst einmal zwei Zigaretten hintereinander und
wählte dann mit feuchten Händen die Telefonnummer mit der Lüneburger Vorwahl.«Musikhaus Da Capo, Beckmann, guten Tag.»Statt Ohrenschmaus nun also Da Capo.
«Hallo, Heinz Strunk hier. Ich ruf an wegen der Mucke, ich würde gern Gurki sprechen.»«Der ist am Apparat.»«Ach so. Ich hab die Nummer von Jörg vom Ohrenschmaus.»
«Schön, dass du anrufst. Also, das geht um ein Schützenfest in Moorwerder, die wollen da dieses Jahr fünf Mann haben, am liebsten mit Saxophon.»«Ich spiel auch Flöte.» «Super. Der Mann ist gut, das hör ich schon, hehehe.»«Ja, hoffentlich.»«Und, Sonnabend und Sonntag, geht das bei dir?»
«Da ist gerade was ausgefallen, und jetzt kann ich wieder», log ich.
«Alles klärchen. Sonnabend sind sieben Stunden, von acht bis drei Uhr, und sonntags nochmal fünf Stunden, von acht bis eins.»«Normal.»
«Kennst du dich aus? Hast du schon mal Tanzmusik gemacht?»
Die Frage konnte ich bejahen. Ich hatte meine ersten Erfahrungen schon mit neunzehn in der Kapelle Holunder gesammelt. Meine vier Kollegen waren sympathisch abgehalfterte Typen um die vierzig. Jens, der Organist, Weinbrandtrinker alter Schule, hatte ein Gesicht, wie es nur hochprozentiger Alkohol im Laufe vieler Jahre zu schnitzen vermag. Er war einer der letzten reinen Organisten, d. h., er spielte keine Synthesizer und Keyboards, sondern eine wunderschöne alte Hammond B3 mit dem dazugehörigen Leslie. Geprobt wurde einmal die Woche in einem ehemaligen Luftschutzbunker. Er war wie alle
Bunker auf der ganzen Welt dunkel, feucht und roch nach verlorenem, altem Krieg. Der Übungsraum lag im fünften Stock. Dort schafften wir uns Deine Spuren im Sand, Hello, Mary Lou oder auch ein Walzermedley mit den schönsten Melodien von Johann Strauß drauf. Nach Feierabend aßen wir in der Kneipe gegenüber meist noch Currywurst mit Kartoffelsalat. Stumm wie ein Fisch saß ich im Kreis meiner erwachsenen Kollegen und hielt den Mund, wie es sich für junge Leute gehört. Wir hatten fast
jeden Samstag einen Job und mussten dann immer unsere tonnenschwere
Anlage die engen Treppen des Bunkers nach unten und morgens um fünf oder sechs wieder nach oben wuchten. Ich hatte große Angst um meine Wirbelsäule, denn ich war ja noch im Wachstum. Hans, der Schlagzeuger, fuhr das Bandauto, einen maroden Mercedes mit Anhänger. 99 Prozent aller schrottreifen Mercedesse mit Hänger, die am Wochenende die Autobahnen blockieren, sind mit Tanzbands besetzt, die gerade auf dem Weg zur Mucke sind. Auf jeder Rückfahrt war Hans besoffen; ein Wunder, dass wir nie erwischt wurden. Bei meiner allerersten Mucke im Herbst 1981 staunte ich nicht schlecht, als
plötzlich Kinder zum Bühnenrand kamen und nach Autogrammen fragten. Da brat mir doch einer nen Storch, die kennen mich gar nicht, und ich muss hier schon Autogramme geben! Ich schätzte daraufhin unseren Prominentenstatus falsch ein, denn es sollten die ersten und letzten Autogramme bleiben, die ich während meiner gesamten Tanzmusiklaufbahn geben musste. Nachdem wir ein Set mit When the saints beendet hatten, gingen die Kollegen zum Tresen, während ich unschlüssig auf der Bühne stehen blieb. Ein dickes Mädchen kam zur Bühne getrottet, blieb direkt vor mir stehen und beobachtete mich, ohne ein Wort zu sagen. Mir fiel auch nichts ein. Das eine Auge ihrer bunten Kinderbrille war mit einem Pflaster verklebt. Es vergingen sicher zwei Minuten, dann sagte sie: «Holunder, Holunder, die Welt wird immer runder.» Sie drehte sich um und schob ab. Das Mädchen sollte Recht behalten. Wegen irgendwelcher
Zwistigkeiten löste sich Holunder ein Jahr später auf, und ich blieb erst mal ohne weitere Engagements.
Ich sagte Gurki, dass ich bereits in drei Tanzbands gespielt hätte.
«Klingt doch gut. Wir probieren das einfach mal aus. Es gibt für beide Tage sechshundert, ist das in Ordnung für dich?»Meine Güte, sechshundert Mark, ein Geldregen!
«Ja, ist okay.» Ich bemühte mich, möglichst gleichgültig zu klingen.
«Alles klar, dann Sonnabend in einer Woche in Moorwerder auf dem Festplatz, das findest du schon. Kannst du gegen sechs Uhr da sein?»
«Äh, das ist gerade ein bisschen schwierig mit dem Hinkommen.»«Wieso, hast du kein Auto oder was?»
Ich hatte noch nicht einmal einen Führerschein, aber das wollte ich nun wirklich nicht zugeben. Mucker ohne Auto, so was gibt’s gar nicht.
«Doch, natürlich, aber mein Lappen ist gerade weg, die haben mich mit 150 in ner Autobahnbaustelle geblitzt.»
Geschwindigkeitsübertretung schien mir das Beste zu sein. Ich war eben ein Mensch, der es eilig hatte. Ich hätte natürlich auch sagen können: «Ich bin bei Rot über ne Ampel gefahren, und da stand noch jemand. Aber ich kann nichts dafür, weil ich besoffen war.» Na ja, besser nicht.
«Pass auf, dann wirst du vor dem Soundcheck abgeholt, so gegen halb sechs.»«Alles klar. Und wie ist es mit Klamotten?»
«Wenn du schwarze Hose, schwarze Schuhe und weißes Hemd mit Stehkragen mitbringen könntest, wär gut. Sakko und Fliege kriegst du von uns. Also dann, bis Samstag, frisch rasiert und gut gelaunt, hahaha.»«Hahaha, ja logisch. Tschöööös.»
Es gibt Orte, die sollte man früh verlassen, wenn man noch etwas vorhat im Leben. Der Hamburger Stadtteil Harburg liegt am falschen, dem südlichen Ufer der Elbe. Das schöne, große, eigentliche Hamburg ist auf der anderen Seite. In jeder Stadt gibt es richtige, weniger richtige und falsche Bezirke, und wenn man im falschen wohnt, sollte man damit nicht hausieren gehen.
Das weithin sichtbare Wahrzeichen Harburgs sind die 1856 gegründeten Phoenix-Gummiwerke. Wo andere Städte eine Burg oder einen Dom haben, steht mitten in Harburg dieses riesige Industrieareal. Schon als Kind hat mich die Phoenix fasziniert. Sie war irgendwie unwirklich und erinnerte an Fabriken in Stummfilmen von Fritz Lang. Der Weg zum Kindergarten führte mich jeden Tag an den geheimnisvollen Gemäuern vorbei, und ich habe mich oft gefragt, was da drinnen wohl vor sich geht. Harburg ist der langweiligste Ort der Welt, aber das ist ja auch schon wieder Quatsch, denn die Kasseler oder die Ulmer
beanspruchen das zu Recht auch für ihre Städte. In den siebziger Jahren eröffnete McDonald’s in Harburg eine der ersten Filialen in Deutschland, die sich sofort zum zentralen Treffpunkt sozial auffälliger Jugendlicher entwickelte. Kinder aus normalen Verhältnissen trauten sich schon bald nicht mehr dort hin, denn zum Cheeseburger gab’s von den halbstarken Schlägerbanden gleich noch gratis eins auf die Nuss, mindestens. Dann soll angeblich irgendwo das legendäre Harburger Schloss existieren, das aber noch nie ein Mensch zu Gesicht bekommen hat.
«Sag mal, das Harburger Schloss, wo ist das denn eigentlich nun genau?»«Weiß ich auch nicht. Aber irgendwo soll das sein.»
Weltberühmt geworden ist Harburg durch die Terroranschläge des elften September. Wer hätte das für möglich gehalten? In den Häusern, in denen ich jahrelang ein und aus gegangen war, hatten also die Top-Terroristen gewohnt! Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi, Ramzi Binalshib und wie sie alle hießen waren in den mir bekannten Straßen einfach so herumgelaufen und hatten bei Schlecker oder Eurospar wie jeder andere auch Seife oder Butter gekauft. Die Technische Universität, Harburger Chaussee Nr. 115, Marienstraße 54 und die Wilhelmstraße 30! Hier hat der Chef Mohammed Atta, ein
guter Koch, wie kolportiert wird, für sich und seine Mordbuben orientalische Spezialitäten gebrutzelt. Aber selbst diesen Ruhm musste Harburg abtreten, denn bald hieß es vereinfachend nur noch, die Terroristen hätten ihre Anschläge von Hamburg aus geplant. In einem der Außenbezirke bewohnte ich zusammen mit
meiner Mutter ein nur sechzig Quadratmeter großes Reihenhaus. Die Straßen der in den fünfziger Jahren erbauten Siedlung waren ausschließlich nach niedersächsischen Provinzkäffern benannt: Walsroder Ring, Celler Weg, Luhdorfer Stieg. Noch nicht mal Hannover war dabei! Wir wohnten im Bispinger Weg 7b. Irgendwie war alles eng und winzig. Straßen, Gärten, Häuser, ja selbst Bäume, Pflanzen und Haustiere wirkten eine Nummer kleiner als anderswo. Auch meine Kinderfreunde Peter Barsties und Walter Scherwath waren hier kleben geblieben. Peter hatte bereits mit zwanzig geheiratet und bewohnte mit seiner Frau ein eigenes Zwergenhaus. Er und Walter waren immer noch gut miteinander befreundet; ich hingegen wurde gemieden. Es herrschte damals in der Siedlung die einhellige Meinung, aus mir würde nichts Rechtes mehr werden. Peter und Walter hatten schon längst ihre Ausbildung beendet und standen erfolgreich im Berufsleben. Die Harburger Walter und Peter hatten eine auffällige Ähnlichkeit mit den echten Walter und Peter, den Söhnen des ewigen Oppositionsführers Dr. Helmut Kohl, der sich mit Hilfe
seines Erfüllungsgehilfen Genscher nun doch noch zum Bundeskanzler hochgemobbt hatte. Wie das die ersten Jahre immer klang: Bundeskanzler Kohl! Das passte irgendwie nicht,
denn eigentlich hieß der Bundeskanzler doch Schmidt, Helmut Schmidt! Allen war klar, dass Helmut Kohl nur ein Übergangskanzler sein konnte. Doch für den Moment hatte er zusammen mit Hannelore und den beiden Söhnen das Sagen. Meine Situation war ausgesprochen verfahren. Ich war bereits nach einem Monat bei der Bundeswehr ausrangiert worden, weil ich den rüden Ton nicht vertrug. Eine Falte im Bettzeug, und sofort wurde man niedergebrüllt. Einerseits war ich ungeschickt, andererseits verstand ich vieles auch einfach nicht. Was zum Beispiel war eigentlich genau das Koppelschloss?«sanitätssoldat strunk, hände vors koppelschloss!»
Nie wusste ich, was ich machen sollte, und ruderte deshalb hilflos mit den Armen. Ich war über 500 Kilometer entfernt von meiner norddeutschen Heimat in der Universitätsstadt Marburg stationiert worden. Das Straßenbild dominierten dort zwei Gruppen junger Leute: coole Studenten vornehmlich der
Geisteswissenschaften, die sich rauchend und Weißwein trinkend in Cafés herumfläzten und sich über die andere Gruppe, die uncoolen Bundeswehrasis aus der Tannenbergkaserne, lustig machten. Nach Dienstschluss stürzten die durch Stiernacken und Pisspottschnitt stigmatisierten Rekruten in der Stadt
aus lauter Verzweiflung schnell noch ein paar Halbe hinunter, um dann vor Erschöpfung und Angst halb wahnsinnig bereits gegen einundzwanzig Uhr in einen komatösen Schlaf zu fallen. Wir armen Sanitätssoldaten waren Menschen zweiter Klasse, Mörder in Uniform, stumpfe Prolls ohne politisches Bewusstsein. Wer nicht verweigerte, war das Letzte. Ich hatte aus Faulheit alle Fristen für die lästige Gewissensprüfung versäumt und musste mich nun ins Unvermeidliche fügen. Ein einziger Albtraum war jeden Sonntag die endlos lange Bahnfahrt vom ungefähr drei Subkontinente entfernten Harburg in die Kaserne zurück. Schrecklich, schrecklich, schrecklich, furchtbar, furchtbar, furchtbar. Ich war ein einziger Schweißausbruch. Im stets überfüllten Zug hockten im Gang die Soldatenzombies auf ihren unförmigen Reisetaschen und dämmerten mit toten Augen einer neuen Folterwoche entgegen. Je näher wir dem Quälcamp kamen, desto heftiger wurden meine Panikattacken. Die Tannenbergkaserne betrat ich jedes Mal als ein vor Todesangst schlotterndes Bündel Mensch, das seiner Auslöschung entgegensieht.
Hier gehörte ich doch nicht hin! Obwohl ich schon nach drei Wochen vollkommen am Ende war, hielt ich noch eine vierte Woche durch, bis mir schließlich beim morgendlichen Stubenappell die Tränen über die Wangen pullerten. Anstatt mich auf der Stelle zu erschießen, schickte mich der Zugführer zum Stabsarzt, und bereits drei Tage später durfte ich mit dem Befund endogene Depression für alle Zeiten dienstuntauglich die Tannenbergkaserne verlassen. Ich mach ein glückliches Mädchen aus dir. Tatsächlich litt ich bereits seit längerem unter Angst und Panikzuständen. Ausgelöst worden waren diese durch ein unausgegorenes Drogenexperiment mit achtzehn. Es hatte mich immer gewurmt, dass ich noch nicht einmal richtig stoned gewesen war, während sich meine damaligen Freunde mit den abenteuerlichsten Drogenerfahrungen übertrumpften. Nie konnte ich mitreden, denn die Joints schlugen bei mir einfach nicht an. In meiner Not ließ ich mich schließlich vom Drogenpapst der Schule zu einem riskanten Selbstversuch überreden: Ich löste eine große Portion Hasch in einer noch größeren Portion starken Bohnenkaffees auf und quälte mir die abscheulich schmeckende Plörre in großen Schlucken hinein. Nach ungefähr einer Stunde setzte schlagartig die Wirkung ein: Herzklopfen, Brustschmerz,
Schwindel und Erstickungsanfälle. Die typischen körperlichen Symptome einer Angstpsychose. Viel schlimmer jedoch waren die sekundären Folgen: Todesängste, Furcht vor Kontrollverlust und das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Nie wieder habe ich derartige Höllenqualen erlitten. Nachdem ich mehrere Stunden überzeugt gewesen war, endgültig den Verstand verloren zu haben, ließ die akute Wirkung in den frühen Morgenstunden nach. Doch offensichtlich war da ernsthaft etwas durcheinander geraten, denn ich wurde noch Monate später von abscheulichen Flashbacks heimgesucht. Daher meine Empfehlung: Hasch und Bohnenkaffee sollten unbedingt getrennt voneinander genossen werden! Auch meine Mutter schlug sich seit längerem schon mit einer schweren seelischen Erkrankung herum. Bei dieser so genannten schizo-affektiven Psychose wechselten sich manische mit depressiven Phasen ab, wobei die Ausschläge im Laufe der Jahre immer heftiger wurden. Hatte die manische Phase ihren Höhepunkt erreicht, schlief Mutter oft tagelang nicht mehr, litt unter starken halluzinatorischen Wahnerlebnissen, psychomotorischen und kognitiven Störungen. In diesem sich exponenziell beschleunigenden Irrsinn brannte sie wie eine Supernova, um schließlich im unendlich verdichteten schwarzen Loch der
Depression zu implodieren. Trotz kiloweise Psychopharmaka und Elektroschocks blieb sie oft monatelang im Kokon der Depression stecken. Die Psychose hatte sich im Laufe der Jahre als
eigenständiges Krankheitsbild verfestigt und war inzwischen unheilbar, obwohl das natürlich niemand zugeben wollte. Erbarmungslos verrichtete sie ihr Zerstörungswerk. Achgottachgott, und jetzt ich. Alles erblich. Vom Vater die Akne und von der Mutter das Verrückte. Meiner genetischen Bestimmung
würde ich nicht entrinnen können. Dabei war ich doch noch so jung. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass bis vierzig jeder durchhalten muss, dann kann er sich frei entscheiden. Aber wie sollte das gehen? Das hatte ich ja noch fast zwanzig Jahre vor mir!
Unsere Siedlung war offenbar der Humus, in dem psychische Defekte aller Art hervorragend gediehen, denn der nächste hoffnungslose Fall wohnte gleich nebenan, im Zwergenhaus zur Rechten. Rosemarie hauste dort seit dem Tod der Eltern zusammen mit ihrem Bruder Werner. Werner war das, was man landläufig grenzdebil nennt. Er hatte meines Wissens noch nie eine Freundin gehabt und sah aus, als ob man ihm über viele Jahre hinweg mit stumpfen Gegenständen unablässig auf den Kopf gehauen und seinen Schädel zusätzlich noch für mindestens zwei Jahre in einen Schraubstock gespannt hätte. Rosemarie teilte das Schicksal meiner Mutter: Seit Jahren arbeitsunfähig, vegetierte sie in ihrem Zimmer vor sich hin, rauchte filterlose Reval und hörte deutsche Schlager, insbesondere die ihres Lieblingsinterpreten Chris Roberts.
Ich bin verliebt in die Liebe, sie ist okay, hey, für mich, ich binverliebt in die Liebe und vielleicht auch in dich.
Du kannst nicht immer siebzehn sein, Liebling, das kannst du
nicht, aber das Leben wird dir noch geben, was es mit siebzehn dirverspricht. © Rowohlt Verlag GmbH
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Autoren-Porträt von Heinz Strunk
Heinz Strunk, Musiker und Schauspieler, wurde 1962 in Hamburg geboren. Er ist Gründungsmitglied des Humoristentrios Studio Braun und hatte auf VIVA eine eigene Fernsehshow.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heinz Strunk
- 2008, 304 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499246414
- ISBN-13: 9783499246418
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