Mädchen Nr. 6
Thriller
Detective Daniela Cole ist Spezialistin für Serienkiller. Doch diese Morde schockieren selbst sie: drei Frauen, getötet mit einer rostigen Heckenschere. Eines der Opfer konnte noch per Handy einen Hilferuf absetzen an Danis große Liebe Mitch. Dann erhält...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mädchen Nr. 6 “
Detective Daniela Cole ist Spezialistin für Serienkiller. Doch diese Morde schockieren selbst sie: drei Frauen, getötet mit einer rostigen Heckenschere. Eines der Opfer konnte noch per Handy einen Hilferuf absetzen an Danis große Liebe Mitch. Dann erhält Dani blutige Post. Steht sie auch auf der Liste des Killers?
Klappentext zu „Mädchen Nr. 6 “
Er tötet seine Opfer mit einer rostigen Gartenschere. Seine Trophäe: eine Haarsträhne. Die attraktive Polizistin Danielle verfolgt seine Spur, die sie gefährlich nah an ihre Grenzen bringt. Steht sie selbst auf der Liste dieses Wahnsinnigen?
Lese-Probe zu „Mädchen Nr. 6 “
Mädchen #6 von Kate Brady1
Camden Park, Lancaster, Maryland
Sonntag, 3. Oktober, 19:50 Uhr
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Jauchzen und fröhliches Gelächter. Es duftete nach Waffeln. Knarzende Luftballons wurden zu Pudeln mit runden Ohren geformt. Auf den Wegen wimmelte es von Müttern mit schwerbeladenen Buggys. Die Väter hatten Bluetooth-Sets im Ohr und achteten nicht auf ihre Kinder, die ihnen hinterhertrotteten, abgelenkt von den bunten Überresten zerplatzter Pudelballons und den Rufen der Eisverkäufer. Leichte Beute, wenn man ein Kinderschänder oder Entführer war. Der Killer war keines von beiden. Die Kinder interessierten ihn nicht, sie waren unschuldig. Schuldig waren die Mütter. Sie hatten abscheuliche, unaussprechliche Verbrechen begangen und dachten, sie kämen damit durch.
Falsch gedacht.
Schon bald würde er einer dieser Mütter eine Lektion erteilen. Einer jungen Frau mit dunklem, langem Haar und einem Porzellanteint. Sie lauerte hinter dem Stand eines Gauklers und schoss mit einer billigen Kamera heimlich Fotos von dem kleinen Austin, dem zweijährigen Sohn von Robert und Alana Kinney. Bereits seit einer Stunde verfolgte die Frau die Familie durch den Trubel.
Jetzt, nach zwei Jahren, schien sie plötzlich das schlechte Gewissen zu packen.
Zu spät, miese Schlampe. Dafür war es viel zu spät.
Ohne etwas von ihrem Verfolger zu ahnen, zog die Frau ihre Jeansjacke enger um sich und folgte den Kinneys zum Parkplatz. Sie schlich an der äußeren Wagenreihe entlang, hinter der der Wald begann, und schoss weitere Fotos des Jungen. Lächerlich. Bei ihr würde er leichtes Spiel haben. Bei dieser Frau, die sich vor den Blicken der anderen verborgen hielt, mit ihrer Rechtschaffenheit und ihrer kleinen Kamera. Der Killer kürzte seinen Weg an zwei Autos vorbei ab und war seiner Beute nun dicht auf den Fersen. Er hielt den Kopf gesenkt, aber man hätte ihn ohnehin nicht erkannt: Stiefel, Schirmmütze, Bart. Dazu ein weit geschnittener Anorak mit großen Taschen. Die alte Küchenschere verlässlich darin verborgen.
Ruhig. Beobachte, warte den richtigen Augenblick ab. Die Kinneys gingen zum entgegengesetzten Ende des Parkplatzes. Austin saß auf den Schultern seines Vaters, das kleine Gesicht hinter einer Wolke hellblauer Zuckerwatte verborgen. Robert Kinney drückte auf den Autoschlüssel, und die Blinker eines schwarzen Mercedes leuchteten kurz auf. Die Frau, die bald sterben würde, kauerte jetzt im Park hinter einer Rhododendronhecke. Der Killer machte sich bereit. Adrenalin schoss ihm ins Blut. Sie war noch gut vier Meter entfernt. Abgelenkt, abgeschirmt und ahnungslos.
Jetzt.
Der Killer stürzte von hinten heran, die Küchenschere wie einen Torpedo auf den schlanken Hals seines Opfers gerichtet. Die Frau musste etwas bemerkt haben, denn sie fuhr herum und öffnete den Mund zu einem Schrei, doch da drangen die Schneidblätter bereits in ihre Kehle ein, und ihr entfuhr nur noch ein leises Unck. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie sank zu Boden, während die Schere unablässig in ihr Fleisch stieß, vor und zurück, vor und zurück. Mit jedem Stoß schien die Zeit langsamer zu vergehen, wie die Zeitlupe eines schlechten Traums. Die Wange, vergiss die Wange nicht. Die Schneidblätter fuhren weiter oben in die weiche Haut und zerfetzten sie. Blut spritzte auf die Lippen des Killers und hinterließ den Geschmack von Kupfer.
Fünfzehn, vielleicht zwanzig Sekunden vergingen - halt, hör auf, bevor sie völlig hinüber ist. Sie soll lange genug leben, um zu begreifen, was geschieht. Steh auf. Atme.
Der Killer erhob sich keuchend und wischte sich über den Ärmel. Die Frau lag mit weit geöffneten Augen auf dem Boden. Sie hatte die Knie angezogen, und ein Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Nach einigen Sekunden begriff sie, und der wunderbare Ausdruck des Verstehens trat in ihre Augen.
Sie wusste Bescheid. In diesen letzten, göttlichen Sekunden kapierten die Frauen immer, worum es ging. Ich hab's verstanden, war in ihrem flackernden Blick zu lesen.
Ja, das solltest du auch. Für Kristina. Damit sie zurückkommt.
Der Killer kniete sich vor sein Opfer, ergriff ein dickes Büschel blutverschmierten Haars und säbelte es ab. Ein weiterer Schritt in Richtung Vergeltung.
Eine Hupe ertönte. Verdammter Mist, Beeilung, es gab noch so viel zu tun. Fulton anrufen. Heute würde sich zeigen, ob er sein Geld wert war. Auch wenn die Leiche des Mädchens im Wald versteckt lag, konnte jemand sie finden. Für derlei Komplikationen war die Zeit jedoch zu knapp. Nur noch eine Woche bis zum Wiedersehen mit Kristina.
Also, Schere und Haare gut wegstecken. Und die Kamera - um Himmels willen, vergiss bloß nicht die Kamera mit den Aufnahmen von Austin Kinney!
Der Killer blickte zufrieden vor sich auf den Boden, dann holte er eine Karte aus Büttenpapier hervor und öffnete sie. Die Sekunden verrannen, aber das hier war wichtig: Die Liste musste aktualisiert werden. Auf die rechte Kartenseite hatte jemand ein Versprechen gekritzelt: Sonntag, 10.10., Kristina. 19:00 Uhr. Auf der linken Seite befand sich eine Liste mit sechs Namen in einer anderen Handschrift. Die ersten drei waren in Braunrot durchgestrichen.
Der Killer beugte sich vor, fuhr mit dem Finger durch die aufklaffende Wange des toten Mädchens und markierte den vierten Namen mit einer rot glitzernden Spur. Auch Nummer vier war erledigt, zwei waren noch übrig.
Jetzt musste er nur noch die Informationen auswerten, die das Mädchen herausgefunden hatte. Der Killer warf einen letzten Blick auf die Leiche am Waldboden, bevor er sich abwandte und zwischen den Bäumen davonging. Er holte ein Prepaid-Handy aus seiner Jackentasche. Fulton ging nach dem ersten Klingeln ran. »Bist du an Russell Sanders dran?«
Fulton gähnte. »Er hat seine Wohnung den ganzen Abend nicht verlassen.«
»Was treibt er?«
»Herrgott, woher soll ich das wissen? Er ist allein. Hat sich eine Zeitlang in der Küche aufgehalten.«
Okay, dann war er wenigstens nicht unterwegs, um mit der Polizei zu sprechen. Vielleicht hatte ihm das tote Mädchen noch nicht erzählt, dass sie Austin Kinney gefunden hatte. Trotzdem hatte sie Kontakt zu Sanders aufgenommen, so viel stand fest. Bestimmt wäre sie noch heute Abend mit den Fotos zu ihm gerannt. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass er nicht anfing herumzuschnüffeln, oder, schlimmer noch, seinen Kumpel Mitch Sheridan holte.
»Soll ich ihn erledigen?«, fragte Fulton. Allmählich wurde er nervös. »Jetzt läuft er auf und ab. Schätze, er telefoniert.« Rief er die Polizei? Oder versuchte er, die tote Frau zu erreichen? Oder Mitch? Jemand musste Sanders aufhalten.
»Ja, schnapp ihn dir.«
Der Gestank der eitrigen Verbände drang Mitch Sheridan aus ein paar Metern Entfernung in die Nase. Ein älterer Kurde, dessen Gewand sich um die Knöchel bauschte, hockte reglos am Boden, den Granatenwerfer gegen die gesunde Schulter gestützt. Hitze waberte vom Sand auf, und in der Ferne waren Zeltreihen zu erkennen. Die Planen waren schwer von den Mittelstangen heruntergesackt und wirkten wie Soldaten, die nicht mehr aufrecht stehen konnten.
Krk, Krk.
Die Kamera surrte. Mitch betätigte den Zoom seiner Leica. Den Bildausschnitt nicht zu klein wählen und auf den rechten Armstumpf des Mannes ausrichten. Auf die vereiterten, nässenden Verbände. Nicht nach dem Namen fragen, das war eine eiserne Regel. Denk nicht an seine Schmerzen und frag dich nicht, was wohl geschehen war. Mach einfach das Foto und enthülle die Story dahinter.
Krk.
»Du bist dran.« Mitch steckte die Leica in die Kameratasche, die ihm um den Hals hing. Der Junge übernahm. Er war ungefähr zehn Jahre alt und hielt eine weitere Kamera - auf die gleiche Art wie Mitch zuvor. Mitch war ihm kurz nach seiner Ankunft in dem Flüchtlingscamp begegnet, als der Junge neben einem Straßenköter den Müll durchwühlte. Der Junge war von der Kamera fasziniert gewesen, und nach ein paar Tagen hatte Mitch ihm seine Ersatz-Canon geliehen. Der Kleine war gut, hatte einen guten Blick.
Mitch wollte sich gerade hinknien, als sich der alte Mann plötzlich von seinem Wachposten erhob. Tiefe Falten bildeten sich in seinen Augenwinkeln, als er in die Sonne blickte. Er zitterte am ganzen Körper. »Firoke«, flüsterte er.
Mitch runzelte die Stirn. Firoke, Firoke. Er sollte das Wort eigentlich kennen, konnte sich jedoch nicht an die Bedeutung erinnern. Bis das Geräusch aus der Ferne näher kam.
Ffp-ffp-ffp-ffp ...
Lieber Himmel, Firoke bedeutete Helikopter auf Kurdisch.
Mitchs Herz tat einen Satz. »Komm!«, rief er und packte den Jungen bei der Hand. Sie mussten sich sofort in Sicherheit bringen. Der Wachposten schrie panisch in sein Funkgerät, während das Dröhnen der Rotoren lauter wurde. In knapp hundert Metern Entfernung brach im Lager die Hölle los. Männer griffen nach ihren Waffen, Frauen liefen umher und riefen verzweifelt nach ihren Kindern.
Ffp-ffp-ffp ...
»Schneller!«, schrie Mitch und umklammerte die Hand des Jungen fester. Schon sauste der Helikopter wie eine gigantische Hornisse auf sie zu. Der Junge stolperte und wirbelte Sand auf. Mitch riss ihn auf die Füße. »Lauf weg!«, brüllte er, aber die Rotorblätter übertönten seine Stimme. Der Helikopter schwebte mittlerweile über ihnen in der Luft. Die Türen glitten auf, und dann war das Inferno da.
Bomben. Explosionen. Schüsse.
Mitch rannte weiter, über den Jungen gebückt, um dessen Kopf zu schützen, während neben ihnen der Sand in alle Richtungen aufstob. Noch fünfzig Meter, und sie waren in Sicherheit, vierzig. Weiterlauf-
Mit einem Mal riss es ihm die Beine fort. Der Junge schrie.
Mitch richtete sich halb auf und spuckte Sand aus. Nicht
loslassen. Was auch geschieht, lass den Jungen nicht los.
Doch seine Beine gaben erneut unter ihm nach. Schmerz schoss durch seine Glieder. Der Junge schrie ihm etwas zu und zog an seiner Hand.
Ich lass ihn los, dachte Mitch. Er kann es noch bis zum Lager schaffen. Doch verstärkten seine Finger ihren Griff, während Sand und heiße Blutstropfen wie Pfeilspitzen auf ihn niederprasselten. Mitch wollte losrobben, aber die Wüste unter ihm schien sich in Treibsand verwandelt zu haben. Er konnte die Beine nicht bewegen. »Komm!«, rief der Junge, und Mitch wusste, dass er es tun musste. Ihn loslassen.
Er fluchte und lockerte seinen Griff. »Lauf weg!«, brüllte er, und der Junge rannte los. Durch den Staub sah Mitch, wie der Junge auf das Lager zujagte. Näher, noch näher.
Der Himmel wurde weiß.
»Neeein!«, schrie Mitch, als er das Rattern hörte. Der Junge wurde hochgeschleudert. Wie eine Stoffpuppe. Hilflos und mit schlaffen Gliedern. Alles war still, als er mit seinen Zöpfen, den Schleifenspangen und der Eistüte in der Hand einfach in die Luft geschleudert wurde. Was? Mitch schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Aber jetzt war es nicht mehr der Junge, sondern Mitchs kleine Schwester, die sich von ihm losgerissen hatte und auf die Straße gelaufen war. Nicht loslassen! Aber das hatte er getan. Mitch schrie, weil die Kampfgeräusche lauter wurden. Von oben fing es aus dem Helikopter an zu piepsen wie aus einem Müllwagen, der rückwärtsfuhr. Pliep -pliep ...
Mitch fuhr mit weit aufgerissenen Augen hoch. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb.
Wieder dieser Traum. Er fluchte und wischte beim Klang
seiner Stimme die Nachwirkungen des Alptraums beiseite.
Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stellte fest, dass er schwitzte. Sein Atem ging stoßweise. Verdammt noch mal, er hatte geglaubt, die Ereignisse im Lager längst überwunden und den tragischen Tod seiner Schwester vor zwei Jahrzehnten verarbeitet zu haben. Außerdem war er nicht mehr im Irak. Er befand sich in der Schweiz - und das schon seit sechs Monaten. Zwei davon hatte er in der Klinik gelegen und um sein Leben gekämpft. Anschließend hatte er in der Reha wieder laufen lernen müssen und war schließlich in diesen gemütlich eingerichteten Bungalow mit den modernsten Therapiegeräten und einem atemberaubenden Ausblick auf die Alpen gezogen. Das waren eben die Vorteile des Wohlstands. Hier gab es weder Kampfhubschrauber noch Bomben oder Fotografien eines Jungen, den er nicht hatte retten können. Hier störte nur das unaufhörliche Piepsen von dem Nachttischchen, das einen halben Meter neben seinem Bett stand.
Das Satellitentelefon.
Er streckte den Arm danach aus. Es gab nur einen Menschen, der ihn hier anrufen würde: Russell Sanders. Verdammt. Mitch nahm den Anruf grunzend entgegen.
»Mitch, bist du es? Kannst du mich hören?«
Er schaltete die Lampe an und neigte den Kopf dem Apparat entgegen, der die Größe eines Ziegelsteins hatte. Wie die Walkie-Talkies, mit denen sein Bruder und er als Kinder gespielt hatten. Sie waren durch das Netz von Abwasserrohren unter dem Sedalia Park gekrochen und hatten beim Herausklettern aus einem der vielen Gullys am Seeufer aufpassen müssen, nicht in Gänsescheiße zu treten. Damals war die Kommunikation nur auf eine Entfernung von zirka fünfzig Metern möglich gewesen, während sie sich nun über den halben Globus erstreckte. Mitch räusperte sich. »Ich kann dich hören.«
»Lieber Himmel, ich hatte schon befürchtet, du würdest nicht drangehen.«
»Ich komme nicht nach Hause, Russ. Lass mich in Ruhe. Ich habe dir gesagt, dass ich mit dem Thema fertig bin.«
»Das hast du bestimmt nicht so gemeint. Du musst die Fotos deinem Publikum zeigen, die Hintergründe aufdecken. Das brauchst du doch wie die Luft zum Atmen.«
»Eher so dringend wie ein Geschwür.« Mitch schob seine Beine seitlich vom Bett und zwang sich, aufzustehen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er tatsächlich geglaubt, mit seinen Fotografien etwas bewirken zu können. Aber seit dem Angriff auf das Lager von Ar Rutbah hatte er begriffen, dass es niemals aufhören würde. Was er auch tat, das Blutvergießen würde kein Ende nehmen. Irgendwo auf der Welt war immer ein Kampfhubschrauber unterwegs, gab es Hungersnöte und wurden kleine Jungen in der Luft zerfetzt.
»Verdammt, Mitch, diese Ausstellung ist besonders wichtig.« »Sicher. Nur hier wird gezeigt, wie der berühmte Fotograf und Gutmensch J. M. Sheridan nicht verhindern konnte, dass ein Kind in Stücke gerissen wurde. Da klingelt die Kasse.«
»Das habe ich nicht so gemeint.«
»Du willst die Ar-Rutbah-Ausstellung? Schön, aber ohne mich. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du die Fotos überhaupt hast. Ich hätte sie dir nämlich nicht geschickt.« Nein, das hatte Mitch einem Angestellten des Krankenhauses zu verdanken, der in guter Absicht Mitchs Habseligkeiten durchgesehen und die Aufnahmen seinem Bruder Neil ausgehändigt hatte, während Mitch noch im Koma lag. Neil wiederum hatte sie Russ gegeben. Mitch hatte den Großteil davon noch nicht einmal gesehen. Nicht, dass er besonders erpicht darauf gewesen wäre.
»Mitch, das ist wirklich wichtig.« Russ verstummte kurz. »Was auch geschehen mag, versprich mir, dass du die Ausstellung machst.«
»Was auch geschehen mag?« Mitch sträubten sich die Nackenhaare. »Wovon redest du?«
»Ich stecke in Schwierigkeiten, Mitch. Es ist wegen der Stiftung. Du musst nach Hause kommen. Die Ausstellung eröffnen.«
»Oh, bitte ...« Doch etwas in Russ' Stimme ließ Mitch aufhorchen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, Mitch manipulieren zu wollen. »Hör mal, ich weiß wirklich nicht - «
»Was?«, sagte Russ, aber es klang, als habe er sich vom Telefon entfernt. Mitch hörte einen dumpfen Schlag.
»Russell?«
»Nein!« Ein schabendes Geräusch drang an Mitchs Ohr. Dann wieder Russ' Stimme. »Argh.«
»Russ, was geht da vor?«
Abermals ein Geräusch. Wie von einem Möbelstück, das über den Boden geschleift wurde. »Russ, was ist los bei dir?« »Mitch!«
Mitch war nun aufgesprungen und hellwach. Sein linkes Bein schmerzte höllisch. Er umklammerte den Hörer fester. »Russ?«
Wieder ein Ziehen und Zerren, dann die Stimme eines anderen Mannes. Panik ergriff Mitch. Er lauschte eindringlich und versuchte, die Geräusche auf der anderen Seite des Planeten zu verstehen. So plötzlich, wie der Tumult entstanden war, so plötzlich herrschte mit einem Mal Ruhe. Keine Stimmen, nichts mehr.
»Russell! «
Doch Mitch hörte nur noch das Hämmern seines eigenen Herzens. Die Leitung war tot.
...
Übersetzung: Antje Nissen
© 2012 Knaur Paperback
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Jauchzen und fröhliches Gelächter. Es duftete nach Waffeln. Knarzende Luftballons wurden zu Pudeln mit runden Ohren geformt. Auf den Wegen wimmelte es von Müttern mit schwerbeladenen Buggys. Die Väter hatten Bluetooth-Sets im Ohr und achteten nicht auf ihre Kinder, die ihnen hinterhertrotteten, abgelenkt von den bunten Überresten zerplatzter Pudelballons und den Rufen der Eisverkäufer. Leichte Beute, wenn man ein Kinderschänder oder Entführer war. Der Killer war keines von beiden. Die Kinder interessierten ihn nicht, sie waren unschuldig. Schuldig waren die Mütter. Sie hatten abscheuliche, unaussprechliche Verbrechen begangen und dachten, sie kämen damit durch.
Falsch gedacht.
Schon bald würde er einer dieser Mütter eine Lektion erteilen. Einer jungen Frau mit dunklem, langem Haar und einem Porzellanteint. Sie lauerte hinter dem Stand eines Gauklers und schoss mit einer billigen Kamera heimlich Fotos von dem kleinen Austin, dem zweijährigen Sohn von Robert und Alana Kinney. Bereits seit einer Stunde verfolgte die Frau die Familie durch den Trubel.
Jetzt, nach zwei Jahren, schien sie plötzlich das schlechte Gewissen zu packen.
Zu spät, miese Schlampe. Dafür war es viel zu spät.
Ohne etwas von ihrem Verfolger zu ahnen, zog die Frau ihre Jeansjacke enger um sich und folgte den Kinneys zum Parkplatz. Sie schlich an der äußeren Wagenreihe entlang, hinter der der Wald begann, und schoss weitere Fotos des Jungen. Lächerlich. Bei ihr würde er leichtes Spiel haben. Bei dieser Frau, die sich vor den Blicken der anderen verborgen hielt, mit ihrer Rechtschaffenheit und ihrer kleinen Kamera. Der Killer kürzte seinen Weg an zwei Autos vorbei ab und war seiner Beute nun dicht auf den Fersen. Er hielt den Kopf gesenkt, aber man hätte ihn ohnehin nicht erkannt: Stiefel, Schirmmütze, Bart. Dazu ein weit geschnittener Anorak mit großen Taschen. Die alte Küchenschere verlässlich darin verborgen.
Ruhig. Beobachte, warte den richtigen Augenblick ab. Die Kinneys gingen zum entgegengesetzten Ende des Parkplatzes. Austin saß auf den Schultern seines Vaters, das kleine Gesicht hinter einer Wolke hellblauer Zuckerwatte verborgen. Robert Kinney drückte auf den Autoschlüssel, und die Blinker eines schwarzen Mercedes leuchteten kurz auf. Die Frau, die bald sterben würde, kauerte jetzt im Park hinter einer Rhododendronhecke. Der Killer machte sich bereit. Adrenalin schoss ihm ins Blut. Sie war noch gut vier Meter entfernt. Abgelenkt, abgeschirmt und ahnungslos.
Jetzt.
Der Killer stürzte von hinten heran, die Küchenschere wie einen Torpedo auf den schlanken Hals seines Opfers gerichtet. Die Frau musste etwas bemerkt haben, denn sie fuhr herum und öffnete den Mund zu einem Schrei, doch da drangen die Schneidblätter bereits in ihre Kehle ein, und ihr entfuhr nur noch ein leises Unck. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie sank zu Boden, während die Schere unablässig in ihr Fleisch stieß, vor und zurück, vor und zurück. Mit jedem Stoß schien die Zeit langsamer zu vergehen, wie die Zeitlupe eines schlechten Traums. Die Wange, vergiss die Wange nicht. Die Schneidblätter fuhren weiter oben in die weiche Haut und zerfetzten sie. Blut spritzte auf die Lippen des Killers und hinterließ den Geschmack von Kupfer.
Fünfzehn, vielleicht zwanzig Sekunden vergingen - halt, hör auf, bevor sie völlig hinüber ist. Sie soll lange genug leben, um zu begreifen, was geschieht. Steh auf. Atme.
Der Killer erhob sich keuchend und wischte sich über den Ärmel. Die Frau lag mit weit geöffneten Augen auf dem Boden. Sie hatte die Knie angezogen, und ein Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Nach einigen Sekunden begriff sie, und der wunderbare Ausdruck des Verstehens trat in ihre Augen.
Sie wusste Bescheid. In diesen letzten, göttlichen Sekunden kapierten die Frauen immer, worum es ging. Ich hab's verstanden, war in ihrem flackernden Blick zu lesen.
Ja, das solltest du auch. Für Kristina. Damit sie zurückkommt.
Der Killer kniete sich vor sein Opfer, ergriff ein dickes Büschel blutverschmierten Haars und säbelte es ab. Ein weiterer Schritt in Richtung Vergeltung.
Eine Hupe ertönte. Verdammter Mist, Beeilung, es gab noch so viel zu tun. Fulton anrufen. Heute würde sich zeigen, ob er sein Geld wert war. Auch wenn die Leiche des Mädchens im Wald versteckt lag, konnte jemand sie finden. Für derlei Komplikationen war die Zeit jedoch zu knapp. Nur noch eine Woche bis zum Wiedersehen mit Kristina.
Also, Schere und Haare gut wegstecken. Und die Kamera - um Himmels willen, vergiss bloß nicht die Kamera mit den Aufnahmen von Austin Kinney!
Der Killer blickte zufrieden vor sich auf den Boden, dann holte er eine Karte aus Büttenpapier hervor und öffnete sie. Die Sekunden verrannen, aber das hier war wichtig: Die Liste musste aktualisiert werden. Auf die rechte Kartenseite hatte jemand ein Versprechen gekritzelt: Sonntag, 10.10., Kristina. 19:00 Uhr. Auf der linken Seite befand sich eine Liste mit sechs Namen in einer anderen Handschrift. Die ersten drei waren in Braunrot durchgestrichen.
Der Killer beugte sich vor, fuhr mit dem Finger durch die aufklaffende Wange des toten Mädchens und markierte den vierten Namen mit einer rot glitzernden Spur. Auch Nummer vier war erledigt, zwei waren noch übrig.
Jetzt musste er nur noch die Informationen auswerten, die das Mädchen herausgefunden hatte. Der Killer warf einen letzten Blick auf die Leiche am Waldboden, bevor er sich abwandte und zwischen den Bäumen davonging. Er holte ein Prepaid-Handy aus seiner Jackentasche. Fulton ging nach dem ersten Klingeln ran. »Bist du an Russell Sanders dran?«
Fulton gähnte. »Er hat seine Wohnung den ganzen Abend nicht verlassen.«
»Was treibt er?«
»Herrgott, woher soll ich das wissen? Er ist allein. Hat sich eine Zeitlang in der Küche aufgehalten.«
Okay, dann war er wenigstens nicht unterwegs, um mit der Polizei zu sprechen. Vielleicht hatte ihm das tote Mädchen noch nicht erzählt, dass sie Austin Kinney gefunden hatte. Trotzdem hatte sie Kontakt zu Sanders aufgenommen, so viel stand fest. Bestimmt wäre sie noch heute Abend mit den Fotos zu ihm gerannt. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass er nicht anfing herumzuschnüffeln, oder, schlimmer noch, seinen Kumpel Mitch Sheridan holte.
»Soll ich ihn erledigen?«, fragte Fulton. Allmählich wurde er nervös. »Jetzt läuft er auf und ab. Schätze, er telefoniert.« Rief er die Polizei? Oder versuchte er, die tote Frau zu erreichen? Oder Mitch? Jemand musste Sanders aufhalten.
»Ja, schnapp ihn dir.«
Der Gestank der eitrigen Verbände drang Mitch Sheridan aus ein paar Metern Entfernung in die Nase. Ein älterer Kurde, dessen Gewand sich um die Knöchel bauschte, hockte reglos am Boden, den Granatenwerfer gegen die gesunde Schulter gestützt. Hitze waberte vom Sand auf, und in der Ferne waren Zeltreihen zu erkennen. Die Planen waren schwer von den Mittelstangen heruntergesackt und wirkten wie Soldaten, die nicht mehr aufrecht stehen konnten.
Krk, Krk.
Die Kamera surrte. Mitch betätigte den Zoom seiner Leica. Den Bildausschnitt nicht zu klein wählen und auf den rechten Armstumpf des Mannes ausrichten. Auf die vereiterten, nässenden Verbände. Nicht nach dem Namen fragen, das war eine eiserne Regel. Denk nicht an seine Schmerzen und frag dich nicht, was wohl geschehen war. Mach einfach das Foto und enthülle die Story dahinter.
Krk.
»Du bist dran.« Mitch steckte die Leica in die Kameratasche, die ihm um den Hals hing. Der Junge übernahm. Er war ungefähr zehn Jahre alt und hielt eine weitere Kamera - auf die gleiche Art wie Mitch zuvor. Mitch war ihm kurz nach seiner Ankunft in dem Flüchtlingscamp begegnet, als der Junge neben einem Straßenköter den Müll durchwühlte. Der Junge war von der Kamera fasziniert gewesen, und nach ein paar Tagen hatte Mitch ihm seine Ersatz-Canon geliehen. Der Kleine war gut, hatte einen guten Blick.
Mitch wollte sich gerade hinknien, als sich der alte Mann plötzlich von seinem Wachposten erhob. Tiefe Falten bildeten sich in seinen Augenwinkeln, als er in die Sonne blickte. Er zitterte am ganzen Körper. »Firoke«, flüsterte er.
Mitch runzelte die Stirn. Firoke, Firoke. Er sollte das Wort eigentlich kennen, konnte sich jedoch nicht an die Bedeutung erinnern. Bis das Geräusch aus der Ferne näher kam.
Ffp-ffp-ffp-ffp ...
Lieber Himmel, Firoke bedeutete Helikopter auf Kurdisch.
Mitchs Herz tat einen Satz. »Komm!«, rief er und packte den Jungen bei der Hand. Sie mussten sich sofort in Sicherheit bringen. Der Wachposten schrie panisch in sein Funkgerät, während das Dröhnen der Rotoren lauter wurde. In knapp hundert Metern Entfernung brach im Lager die Hölle los. Männer griffen nach ihren Waffen, Frauen liefen umher und riefen verzweifelt nach ihren Kindern.
Ffp-ffp-ffp ...
»Schneller!«, schrie Mitch und umklammerte die Hand des Jungen fester. Schon sauste der Helikopter wie eine gigantische Hornisse auf sie zu. Der Junge stolperte und wirbelte Sand auf. Mitch riss ihn auf die Füße. »Lauf weg!«, brüllte er, aber die Rotorblätter übertönten seine Stimme. Der Helikopter schwebte mittlerweile über ihnen in der Luft. Die Türen glitten auf, und dann war das Inferno da.
Bomben. Explosionen. Schüsse.
Mitch rannte weiter, über den Jungen gebückt, um dessen Kopf zu schützen, während neben ihnen der Sand in alle Richtungen aufstob. Noch fünfzig Meter, und sie waren in Sicherheit, vierzig. Weiterlauf-
Mit einem Mal riss es ihm die Beine fort. Der Junge schrie.
Mitch richtete sich halb auf und spuckte Sand aus. Nicht
loslassen. Was auch geschieht, lass den Jungen nicht los.
Doch seine Beine gaben erneut unter ihm nach. Schmerz schoss durch seine Glieder. Der Junge schrie ihm etwas zu und zog an seiner Hand.
Ich lass ihn los, dachte Mitch. Er kann es noch bis zum Lager schaffen. Doch verstärkten seine Finger ihren Griff, während Sand und heiße Blutstropfen wie Pfeilspitzen auf ihn niederprasselten. Mitch wollte losrobben, aber die Wüste unter ihm schien sich in Treibsand verwandelt zu haben. Er konnte die Beine nicht bewegen. »Komm!«, rief der Junge, und Mitch wusste, dass er es tun musste. Ihn loslassen.
Er fluchte und lockerte seinen Griff. »Lauf weg!«, brüllte er, und der Junge rannte los. Durch den Staub sah Mitch, wie der Junge auf das Lager zujagte. Näher, noch näher.
Der Himmel wurde weiß.
»Neeein!«, schrie Mitch, als er das Rattern hörte. Der Junge wurde hochgeschleudert. Wie eine Stoffpuppe. Hilflos und mit schlaffen Gliedern. Alles war still, als er mit seinen Zöpfen, den Schleifenspangen und der Eistüte in der Hand einfach in die Luft geschleudert wurde. Was? Mitch schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Aber jetzt war es nicht mehr der Junge, sondern Mitchs kleine Schwester, die sich von ihm losgerissen hatte und auf die Straße gelaufen war. Nicht loslassen! Aber das hatte er getan. Mitch schrie, weil die Kampfgeräusche lauter wurden. Von oben fing es aus dem Helikopter an zu piepsen wie aus einem Müllwagen, der rückwärtsfuhr. Pliep -pliep ...
Mitch fuhr mit weit aufgerissenen Augen hoch. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb.
Wieder dieser Traum. Er fluchte und wischte beim Klang
seiner Stimme die Nachwirkungen des Alptraums beiseite.
Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stellte fest, dass er schwitzte. Sein Atem ging stoßweise. Verdammt noch mal, er hatte geglaubt, die Ereignisse im Lager längst überwunden und den tragischen Tod seiner Schwester vor zwei Jahrzehnten verarbeitet zu haben. Außerdem war er nicht mehr im Irak. Er befand sich in der Schweiz - und das schon seit sechs Monaten. Zwei davon hatte er in der Klinik gelegen und um sein Leben gekämpft. Anschließend hatte er in der Reha wieder laufen lernen müssen und war schließlich in diesen gemütlich eingerichteten Bungalow mit den modernsten Therapiegeräten und einem atemberaubenden Ausblick auf die Alpen gezogen. Das waren eben die Vorteile des Wohlstands. Hier gab es weder Kampfhubschrauber noch Bomben oder Fotografien eines Jungen, den er nicht hatte retten können. Hier störte nur das unaufhörliche Piepsen von dem Nachttischchen, das einen halben Meter neben seinem Bett stand.
Das Satellitentelefon.
Er streckte den Arm danach aus. Es gab nur einen Menschen, der ihn hier anrufen würde: Russell Sanders. Verdammt. Mitch nahm den Anruf grunzend entgegen.
»Mitch, bist du es? Kannst du mich hören?«
Er schaltete die Lampe an und neigte den Kopf dem Apparat entgegen, der die Größe eines Ziegelsteins hatte. Wie die Walkie-Talkies, mit denen sein Bruder und er als Kinder gespielt hatten. Sie waren durch das Netz von Abwasserrohren unter dem Sedalia Park gekrochen und hatten beim Herausklettern aus einem der vielen Gullys am Seeufer aufpassen müssen, nicht in Gänsescheiße zu treten. Damals war die Kommunikation nur auf eine Entfernung von zirka fünfzig Metern möglich gewesen, während sie sich nun über den halben Globus erstreckte. Mitch räusperte sich. »Ich kann dich hören.«
»Lieber Himmel, ich hatte schon befürchtet, du würdest nicht drangehen.«
»Ich komme nicht nach Hause, Russ. Lass mich in Ruhe. Ich habe dir gesagt, dass ich mit dem Thema fertig bin.«
»Das hast du bestimmt nicht so gemeint. Du musst die Fotos deinem Publikum zeigen, die Hintergründe aufdecken. Das brauchst du doch wie die Luft zum Atmen.«
»Eher so dringend wie ein Geschwür.« Mitch schob seine Beine seitlich vom Bett und zwang sich, aufzustehen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er tatsächlich geglaubt, mit seinen Fotografien etwas bewirken zu können. Aber seit dem Angriff auf das Lager von Ar Rutbah hatte er begriffen, dass es niemals aufhören würde. Was er auch tat, das Blutvergießen würde kein Ende nehmen. Irgendwo auf der Welt war immer ein Kampfhubschrauber unterwegs, gab es Hungersnöte und wurden kleine Jungen in der Luft zerfetzt.
»Verdammt, Mitch, diese Ausstellung ist besonders wichtig.« »Sicher. Nur hier wird gezeigt, wie der berühmte Fotograf und Gutmensch J. M. Sheridan nicht verhindern konnte, dass ein Kind in Stücke gerissen wurde. Da klingelt die Kasse.«
»Das habe ich nicht so gemeint.«
»Du willst die Ar-Rutbah-Ausstellung? Schön, aber ohne mich. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du die Fotos überhaupt hast. Ich hätte sie dir nämlich nicht geschickt.« Nein, das hatte Mitch einem Angestellten des Krankenhauses zu verdanken, der in guter Absicht Mitchs Habseligkeiten durchgesehen und die Aufnahmen seinem Bruder Neil ausgehändigt hatte, während Mitch noch im Koma lag. Neil wiederum hatte sie Russ gegeben. Mitch hatte den Großteil davon noch nicht einmal gesehen. Nicht, dass er besonders erpicht darauf gewesen wäre.
»Mitch, das ist wirklich wichtig.« Russ verstummte kurz. »Was auch geschehen mag, versprich mir, dass du die Ausstellung machst.«
»Was auch geschehen mag?« Mitch sträubten sich die Nackenhaare. »Wovon redest du?«
»Ich stecke in Schwierigkeiten, Mitch. Es ist wegen der Stiftung. Du musst nach Hause kommen. Die Ausstellung eröffnen.«
»Oh, bitte ...« Doch etwas in Russ' Stimme ließ Mitch aufhorchen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, Mitch manipulieren zu wollen. »Hör mal, ich weiß wirklich nicht - «
»Was?«, sagte Russ, aber es klang, als habe er sich vom Telefon entfernt. Mitch hörte einen dumpfen Schlag.
»Russell?«
»Nein!« Ein schabendes Geräusch drang an Mitchs Ohr. Dann wieder Russ' Stimme. »Argh.«
»Russ, was geht da vor?«
Abermals ein Geräusch. Wie von einem Möbelstück, das über den Boden geschleift wurde. »Russ, was ist los bei dir?« »Mitch!«
Mitch war nun aufgesprungen und hellwach. Sein linkes Bein schmerzte höllisch. Er umklammerte den Hörer fester. »Russ?«
Wieder ein Ziehen und Zerren, dann die Stimme eines anderen Mannes. Panik ergriff Mitch. Er lauschte eindringlich und versuchte, die Geräusche auf der anderen Seite des Planeten zu verstehen. So plötzlich, wie der Tumult entstanden war, so plötzlich herrschte mit einem Mal Ruhe. Keine Stimmen, nichts mehr.
»Russell! «
Doch Mitch hörte nur noch das Hämmern seines eigenen Herzens. Die Leitung war tot.
...
Übersetzung: Antje Nissen
© 2012 Knaur Paperback
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Kate Brady
Brady, KateKate Brady ist Chorleiterin und Dozentin für Musik. Für ihren Debütroman "Puppengrab" wurde sie mit dem begehrten RITA-Award ausgezeichnet. "Mädchen Nr. 6" ist ihr zweiter Roman bei Knaur. Sie lebt mit ihrer Familie in Atlanta.
Nissen, Antje
Antje Nissen, geboren in Hamburg, hat Literaturwissenschaften, Amerikanistik und Medienkultur studiert und jahrelang im Buchhandel gearbeitet. Ihre Liebe zu Büchern hat sie nach München geführt, wo sie sich unter anderem verschiedenen Projekten innerhalb einer großen Verlagsgruppe widmete. Seit 2003 ist sie freiberufliche Lektorin, Herausgeberin und Übersetzerin in ihrer Wahlheimat.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Brady
- 2012, 455 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Nissen, Antje
- Übersetzer: Antje Nissen
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426213575
- ISBN-13: 9783426213575
Rezension zu „Mädchen Nr. 6 “
"Spektakulrä bis zur überraschenden Auflösung." -- Grazia, 04.10.2012"'Mädchen Nr. 6' ist auch hammerspannend - ein Thriller, der vor allem Frauen packt." -- Berliner Kurier online, 03.09.2012
"Nach dem hochspannenden Debütroamn PUPPENGRAB hat die amerikanische Autorin Kate Brady nun ihr zweites Wrk MÄDCHEN #6 veröffentlicht. Und dieser Thriller ist nicht minder spannend. Damit tritt Brady in die Riege erfolgreicher Thriller-Autorinnen wie Karen Rose und Lisa Jackson ein." -- Cellesche Zeitung, 10.11.2012
Kommentare zu "Mädchen Nr. 6"
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