Nur eine Ohrfeige
Roman
Das Leben könnte so schön und einfach sein. Ist es aber nicht. Bisweilen genügt eine kleine Erschütterung und sicher geglaubte Fundamente geraten ins Wanken.
Eine Grillparty für Freunde und Familie. Plötzlich der Eklat:...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nur eine Ohrfeige “
Das Leben könnte so schön und einfach sein. Ist es aber nicht. Bisweilen genügt eine kleine Erschütterung und sicher geglaubte Fundamente geraten ins Wanken.
Eine Grillparty für Freunde und Familie. Plötzlich der Eklat: Harry ohrfeigt den dreijährigen Hugo und löst damit eine tiefe Spaltung aus. Während die Hälfte der Gäste sich mit Harry solidarisiert, ruft die andere "Partei" nach Polizei und Gericht. Die Ohrfeige zwingt alle Beteiligten, ihr eigenes Familienleben, ihre Erwartungen, Wünsche und Überzeugungen in Frage zu stellen. Aus acht Perspektiven schildert Christos Tsiolkas diese spannende Auseinandersetzung.
"Ein packender Trip zu den verborgenen Schattenseiten des Vorstadtlebens."
THE INDEPENDENT
Klappentext zu „Nur eine Ohrfeige “
Aus einer scheinbar banalen Begebenheit entwickelt sich eine packende Erzählung über Liebe, Sex und die verschiedenen Auffassungen von Ehe, Erziehung und Freundschaft. Die Ohrfeige zwingt alle Beteiligten dazu, ihr eigenes Familienleben, all ihre Erwartungen, Überzeugungen und Wünsche infrage zu stellen. Aus acht Perspektiven schildert Tsiolkas eindrücklich das innere Erleben der Gäste. Ein großer Gesellschaftsroman - ein Roman über die moderne Familie.
- Monatelang auf den Bestsellerlisten in Großbritannien und Australien
- Ausgezeichnet mit dem »Commonwealth Writers' Prize«
- Nominiert für den »Man Booker Prize«
- Verfilmt als Fernsehserie
gebunden mit Schutzumschlag
Lese-Probe zu „Nur eine Ohrfeige “
Nur eine Ohrfeige von Christos TsiolkasHECTOR
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Hector hatte die Augen noch geschlossen, als er aus einem Traum erwachte, an den er sich schon nicht mehr erinnern konnte. Müde streckte er die Hand aus. Ah, gut. Aisha war schon auf. Er ließ genüsslich einen fahren und vergrub das Gesicht im Kissen, um nicht den modrigen Gestank einatmen zu müssen. Ich habe keine Lust, in einer Männerumkleide zu schlafen, beschwerte Aisha sich jedes Mal, wenn er sich versehentlich in ihrer Gegenwart vergaß. Was allerdings nur selten vorkam. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, sich nur noch gehenzulassen, wenn er allein war. Dann furzte und pinkelte er unter der Dusche, rülpste im Auto und genoss es, wenn sie auf einer Tagung war, sich das ganze Wochenende lang weder zu waschen noch die Zähne zu putzen. Nicht dass seine Frau besonders prüde war, sie ertrug nur offenbar die Ausdünstungen des männlichen Körpers nicht. Er selbst hätte kein Problem damit, in einer Mädchenumkleide einzuschlafen, umgeben vom feuchten, berauschenden Duft süßer junger Mösen. Noch im Halbschlaf drehte er sich auf den Rücken und schob das Laken beiseite. Süße junge Mösen. Er hatte es laut ausgesprochen.
Connie.
Bei dem Gedanken an sie war er endgültig wach. Aisha würde ihn für pervers halten. Doch das war er nicht. Er liebte Frauen ganz einfach. Egal ob jung oder alt, ob sie gerade erst erblühten oder schon anfingen zu verwelken. Er kam sich dabei so eitel vor, dass es ihm schon fast peinlich war, aber er wusste nun mal, dass die Frauen auch ihn liebten. Frauen liebten ihn.
Aufstehen, Hector, sagte er sich. Zeit, den Tag zu beginnen.
Der Tag begann mit einer Reihe von Übungen, die er jeden Morgen absolvierte. Das Ganze dauerte nicht länger als zwanzig Minuten. Manchmal, wenn er mit Kopfschmerzen oder einem Kater
aufwachte, oder beidem zusammen, oder einer Unlust, die offenbar tief aus seinem Inneren kam, war er schon nach zehn Minuten fertig. Es ging ihm nicht so sehr um das strenge Einhalten eines Ablaufs, sondern eigentlich nur darum, überhaupt zu trainieren - selbst wenn er krank war, zwang er sich dazu. Er stand auf, schnappte sich eine Jogginghose, schlüpfte in das T-Shirt, das er am Tag zuvor getragen hatte, und fing mit neun verschiedenen Dehnübungen an, bei denen er jeweils bis dreißig zählte. Dann legte er sich auf den Teppich und machte hundertfünfzig Sit-ups und fünfzig Liegestütze. Am Ende dann nochmal drei Dehnübungen. Danach ging er in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an, lief zu dem kleinen Laden am Ende der Straße und kaufte die Zeitung und eine Schachtel Zigaretten. Zurück zu Hause goss er sich einen Kaffee ein, ging nach draußen auf die Veranda, zündete sich eine Zigarette an, schlug den Sportteil auf und begann zu lesen. In diesem Moment, die Zeitung vor sich aufgeschlagen, mit dem bitteren Kaffeegeruch in der Nase und dem ersten Zug von der Zigarette, waren ihm alle Nöte, die blöden Nichtigkeiten, der Stress und die Sorgen des vorigen oder kommenden Tages egal. ln diesen Momenten, vielleicht sogar nur dann, war er glücklich.
Hector hatte schon als Kind festgestellt, dass die einzige Methode, gegen das erdrückend wohlige Gefühl des Schlafes anzukommen, darin bestand, mit Vollgas hindurchzupreschen, die Augen aufzureißen und aus dem Bett zu springen. Aber diesmal blieb er liegen und ließ sich sanft von den Geräuschen seiner Familie wecken. Aisha hatte in der Küche einen Klassiksender eingestellt, und Beethovens Neunte drang durchs ganze Haus. Aus dem Wohnzimmer hörte er das elektronische Piepen und blecherne Nachhallen eines Computerspiels. Einen Augenblick lang lag er regungslos da, warf dann das Laken zurück und blickte auf seinen nackten Körper. Er hob das rechte Bein und ließ es zurück aufs Bett fallen. Heute ist es so weit, Hector, sagte er sich, heute ist es so weit. Er sprang hoch, zog sich einen roten Sportslip und ein Unterhemd an, ging ins Bad, pinkelte lange und laut und stürmte in die Küche.
Es roch nach Kaffee. Aisha schlug gerade ein paar Eier in die Pfanne. Er küsste ihren Nacken. Mitten im Crescendo schaltete er das Radio aus.
»He, ich wollte das hören.«
Hector ging einen Stapel CDs durch, die neben dem CD-Player lagen. Er nahm eine von ihnen aus der Hülle, legte sie ein und spielte einen Titel nach dem anderen an, bis er das richtige Stück gefunden hatte. Als die ersten Töne aus Louis Armstrangs Trompete erklangen, lächelte er. Er küsste seine Frau noch einmal in den Nacken.
»Heute muss ich Satchmo hören«, flüsterte er ihr zu. »Und zwar den > West End Blues <.«
Er führte seine Übungen langsam aus, atmete dabei gleichmäßig und zählte bis dreißig. Nach jedem Durchgang lauschte er der Musik, der sich langsam steigernden Sinnlichkeit. Bei den Sit-ups konzentrierte er sich auf die Spannung der Bauchmuskeln, und während der Liegestütze auf das Ziehen in seinen Trizepsen und Brustmuskeln. Er wollte seinen Körper spüren, wollte sich lebendig, stark und sicher fühlen.
Als er fertig war, wischte er sich den Schweiß von den Brauen, hob das Hemd, das er am Abend zuvor einfach hingeworfen hatte, vom Boden auf und schlüpfte in seine Sandalen.
»Willst du was vom Laden?«
Aisha lachte. »Du siehst aus wie ein Penner.«
Sie ging nie ohne Make-up und ordentliche Kleidung aus dem Haus. Nicht dass sie sich auffällig schminkte, das hatte sie nicht nötig - es war einer der Punkte, der ihn von vornherein an ihr angezogen hatte. Für Mädchen, die viel Make-up, Puder und Lippenstift trugen, hatte er nie etwas übriggehabt. Er fand das nuttig, und obwohl er wusste, wie lächerlich seine konservative Einstellung war, konnte er sich doch nicht dazu durchringen, eine stark geschminkte Frau gut zu finden. Egal, wie schön sie in Wirklichkeit war. Aisha brauchte kein Make-up. Ihre dunkle Haut war makellos und geschmeidig, und die großen, tief liegenden, schräg abfallenden Augen leuchteten in ihrem schmalen, perfekt geformten Gesicht.
Hector sah auf seine Latschen runter und lächelte. »Und, darf der Penner dir etwas mitbringen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nee. Aber du wolltest noch einkaufen fahren, oder?«
»Hatte ich wahrscheinlich gesagt.«
Sie sah auf die Küchenuhr. »Dann solltest du dich beeilen.«
Er antwortete nicht. Ihr Kommentar ärgerte ihn, er wollte sich an diesem Morgen nicht beeilen. Er wollte ihn ganz ruhig angehen lassen.
Er schnappte sich die Samstagsausgabe der Zeitung und warf einen Zehn-Dollar-Schein auf den Ladentisch. Mr. Ling griff nach der goldenen Packung Peter Jackson Super Mild, aber Hector stoppte ihn.
»Nein, heute nicht. Heute nehme ich eine Schachtel rote Stuyvesant. Im Softpack. Geben Sie mir am besten gleich zwei.« Hector steckte den Zehner wieder ein und legte einen Zwanziger hin.
»Sie wechseln Marke?«
»Das ist mein letzter Tag, Mr. Ling. Ab morgen höre ich auf.«
»Sehr gut.« Der alte Mann lächelte. »Ich rauche nur drei an Tag. Eine Morgen, eine nach Essen und eine, wenn ich fertig mit Arbeit.«
»Ich wünschte, das könnte ich auch.« Die letzten fünf Jahre waren wie ein Karussell gewesen, zigmal hatte er aufgehört und wieder angefangen, sich eingeredet, ruhig fünf am Tag rauchen zu können, warum auch nicht, fünf am Tag waren ja nicht so schlimm, aber dann hatte er sich doch nicht beherrschen können und die ganze Schachtel leergemacht. Jedes Mal. Er beneidete den alten Chinesen. Wie gern würde er bloß vier oder fünf am Tag rauchen. Aber das schaffte er nicht. Zigaretten waren so etwas wie eine teuflische Geliebte für ihn. Oft schon hatte er die Packung unter dem Wasserhahn aufweichen lassen und sie dann in den Müll geschmissen, fest entschlossen, nie wieder zu rauchen. Er hatte es mit kaltem Entzug probiert, mit Hypnose, Pflastern, Kaugummis. Ein paar Tage vielleicht, eine Woche, einmal hatte er es sogar einen ganzen Monat lang geschafft, der Versuchung zu widerstehen. Aber dann schnorrte er eine bei der Arbeit, in der Kneipe oder nach dem Essen, und schon lag er wieder in den Armen seiner verschmähten Geliebten. Und deren Rache folgte prompt. Er war ihr ergeben und außerstande, ohne sie durch den Morgen zu kommen. Sie war zu verlockend.
Eines Sonntagmorgens, als die Kinder bei seinen Eltern waren und Aisha und er wunderbaren, entspannten Sex hatten, schlang er seine Arme um sie und flüsterte: »Ich liebe dich, du bist für mich das Schönste auf Erden, du bist mein Ein und Alles.« Und sie drehte sich mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht zu ihm um und sagte: »Nein, bin ich nicht, deine eigentliche Liebe sind die Zigaretten.«
Es folgte ein schlimmer Streit, der sie beide an den Rand der Erschöpfung brachte - stundenlang schrien sie sich an. Sie hatte ihn tief getroffen, ihn in seinem Stolz verletzt, vor allem, als er beschämt feststellen musste, dass er fieberhaft eine nach der anderen rauchte, um auch nur einigermaßen die Kontrolle zu bewahren. Er hatte ihr vorgehalten, selbstgerecht und außerdem eine kleinbürgerliche Moralpredigerin zu sein, und sie hatte mit einer Litanei seiner Schwächen gekontert: Er sei eitel und faul, passiv und selbstsüchtig und habe keinerlei Willenskraft. Ihre Anschuldigungen schmerzten ihn, weil er wusste, dass sie recht hatte.
Also beschloss er aufzuhören. Ein für alle Mal. Und zwar ohne Ankündigung, sonst musste er sich nur wieder ihre Zweifel anhören. Aber er würde aufhören.
Es war ein warmer Morgen, er setzte sich im Unterhemd mit seinem Kaffee auf die Veranda. Kaum hatte er die Zigarette angezündet, kam Melissa rausgeschossen und lief schreiend in seine Arme.
»Adam lässt mich nicht spielen«, heulte sie. Er nahm sie auf den Schoß, streichelte ihr übers Gesicht und ließ sie weinen, bis sie nicht mehr konnte. Das war das Letzte, was er jetzt brauchte. Ausgerechnet an diesem Morgen. Er wollte die Zigarette ganz entspannt rauchen. Aber man hatte nirgends seine Ruhe. Also spielte er mit ihrem Haar, küsste seine Tochter auf die Stirn und wartete, dass die Tränen verflossen. Melissa sah zu, wie er seine Zigarette ausdrückte und der Rauch verflog.
»Du sollst doch nicht rauchen, Daddy. Davon kriegt man Krebs.«
Sie plapperte nach, was sie in der Schule hörte. Seine Kinder kamen kaum mit dem Einmaleins zurecht, wussten aber, dass Rauchen Lungenkrebs verursachte und man durch ungeschützten Sex Geschlechtskrankheiten bekam. Statt mit ihr zu schimpfen, nahm er sie auf den Arm und trug sie ins Wohnzimmer. Adam war mit seinem Computerspiel beschäftigt und sah nicht mal hoch.
Hector holte tief Luft. Er hätte dem faulen kleinen Mistkerl am liebsten einen Tritt verpasst, setzte seine Tochter dann aber nur neben ihm ab und nahm ihm die Konsole weg.
»Deine Schwester ist dran.«
»Sie ist noch ein Baby. Sie kann das nicht.«
Adam hatte die Arme verschränkt und warf seinem Vater einen rebellischen Blick zu. Sein schwabbeliger Bauch schaute über der Jeans hervor. Aisha behauptete, der Babyspeck würde mit der Pubertät verschwinden, aber da war sich Hector nicht so sicher. Der Junge war besessen von Bildschirmen, er saß entweder vor dem Computer, vor dem Fernseher oder vor seiner Playstation. Seine Trägheit ging Hector auf die Nerven. Er war immer stolz auf sein eigenes gutes Aussehen und seinen durchtrainierten Körper gewesen. Als Teenager hatte er einen ziemlich guten Footballspieler und noch besseren Schwimmer abgegeben. Dass sein Sohn so dick war, empfand er als Beleidigung. Manchmal schämte er sich, mit Adam in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Ihm war bewusst, wie schlimm dieser Gedanke war, deswegen hatte er es nie jemandem gegenüber erwähnt. Trotzdem war er enttäuscht und wies Adam deswegen ständig zurecht. Musst du den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen? Draußen ist es herrlich, warum gehst du nicht raus? Adam reagierte meistens mit Schweigen und Schmollen, und das ärgerte Hector nur noch mehr. Er musste sich auf die Lippen beißen, um ihn nicht zu beleidigen. Hin und wieder sah Adam ihn dann aber wieder derartig verwirrt und verletzt an, dass Hector vor Scham fast im Erdboden versank.
»Komm schon, lass sie auch mal.
»Die kriegt das eh nicht hin.«
»Los jetzt.«
Der Junge warf die Konsole zu Boden, stand schwankend auf,
stürmte in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Melissa fasste nach der Hand ihres Vaters und sah ihrem Bruder
nach. »Ich will spielen.« Sie weinte schon wieder.
»Spiel doch allein.«
»Ich will mit Adam spielen.«
Hector griff nach den Zigaretten in seiner Tasche.
»Du hast genauso ein Recht darauf wie er. Das war unfair von Adam. Er kommt bestimmt gleich und spielt mir dir, warte nur ab.« Er sprach bewusst ruhig, leierte die Plattitüden in einem fast kindlichen Singsang runter, aber Melissa ließ sich nicht besänftigen.
»Ich will mit Adam spielen«, jammerte sie und drückte seine Hand fester. Sein erster Instinkt war, sie wegzuschieben. Schuldbewusst streichelte er ihr übers Haar und küsste sie auf den Kopf.
»Hast du Lust, mit mir einkaufen zu fahren?«
Melissa heulte zwar nicht mehr, wollte sich aber noch nicht geschlagen geben. Sie starrte traurig auf Adams Tür.
Hector schüttelte seine Hand frei. »Es ist deine Entscheidung, Schatz. Du kannst hierbleiben und alleine Videospiele spielen oder mit mir einkaufen kommen. Was möchtest du lieber?«
Das Mädchen antwortete nicht.
»Okay.« Hector zuckte mit den Schultern und steckte sich eine Zigarette in den Mund. »Wie du willst.« Auf dem Weg in die Küche hörte er sie wieder weinen.
Aisha trocknete sich die Hände ab. Sie zeigte auf die Uhr.
»Ich weiß, ich weiß. Ich will doch nur verdammt nochmal in Ruhe eine einzige Zigarette rauchen.«
Er hatte erwartet, dass Aisha in den Chor einstimmte, der ihm
an diesem Morgen entgegenschlug, aber sie fing an zu grinsen und küsste ihn auf die Wange.
»Okay, wer von beiden hat Schuld?«
»Adam. Auf jeden Fall Adam.«
Er setzte sich auf die Veranda und rauchte seine Zigarette. Drinnen hörte er Aisha ruhig auf seine Tochter einreden. Wahrscheinlich kniete sie schon neben Melissa und spielte mit ihr das Videospiel. Gleich würde Adam aus seinem Zimmer kommen, sich aufs Sofa setzen und den beiden zugucken. Bis schließlich irgendwann nur noch die Kinder vor der Konsole saßen und Aisha sich in die Küche zurückgeschlichen hatte. Er staunte, wie viel Geduld seine Frau hatte und wie wenig er selbst. Manchmal fragte er sich, wie seine Kinder Respekt vor ihm haben sollten, wenn sie älter waren - und ob sie ihn überhaupt je lieben würden.
Connie liebte ihn. Sie hatte es ihm gesagt. Er wusste, dass es ihr fast körperliche Schmerzen bereitet hatte, die Worte auszusprechen, dass sie fast daran erstickt wäre. Aisha hatte ihm natürlich auch oft gesagt, dass sie ihn liebte, aber immer ganz ruhig und unbekümmert, als wäre sie von Anfang an sicher gewesen, dass er sie genauso liebte. Jemandem zu sagen, dass man ihn liebt, sollte nie ohne Leidenschaft sein. Connie hatte die Worte panikartig hervorgestoßen, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Sie hatte sich nicht getraut, ihn dabei anzusehen, und sich im selben Moment eine Locke in den Mund gesteckt, die er dann beiseite-gestrichen hatte, um sie auf den Mund zu küssen. »Ich liebe dich auch«, hatte er geantwortet. Und das tat er wirklich. Monatelang hatte er kaum an etwas anderes denken können. Aber er hatte sich nicht getraut, es Connie zu sagen. Sie hatte die Worte zuerst ausgesprochen.
»Hast du noch Valium?«
»Nein.« Er hörte den Vorwurf in Aishas Stimme und sah, wie sie zur Küchenuhr schaute. »Ich habe jede Menge Zeit.«
»Wofür brauchst du Valium?«
»Ich brauche es nicht. Ich will es einfach. Damit ich nachher beim Barbecue lockerer bin.«
Aisha lächelte plötzlich, ihre Augen funkelten schelmisch. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, ging hinein und zog seine Frau in die Arme. »Ich habe jede Menge Zeit, ich habe jede Menge Zeit«, sang er. Er küsste die Finger ihrer linken Hand, roch den süßen Geruch von Kümmel und Limonensaft. Sie küsste ihn zurück und schob ihn dann sanft weg.
»lst es so schlimm?«
»Nein, überhaupt nicht.« Natürlich hätte er an einem Samstagabend lieber etwas anderes gemacht, als sich um Familie, Freunde und Arbeitskollegen zu kümmern. Ganz bestimmt hätte er den letzten Tag seines Lebens als Raucher gern für sich gehabt. Aber Aisha wollte sich mit ihrer kleinen Feier für zahllose Einladungen zu Abendessen und Partys revanchieren. Sie hatte das Gefühl, dass sie es ihrem Bekanntenkreis schuldig waren. Hector empfand das nicht so. Aber er war ein großartiger Gastgeber und verstand, wie wichtig dieser Abend für seine Frau war.
»Schlimm ist es nicht, aber ein bisschen Valium könnte nicht schaden. Nur für den Fall, dass meine Mutter mir heute Abend wieder auf die Nerven geht.«
»Normalerweise bist nicht du es, dem sie auf die Nerven geht.« Aishas Blick wanderte zurück zur Uhr. »Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, in die Praxis zu fahren und welches zu besorgen.«
»Kein Problem, ich fahre nach dem Einkaufen einfach dort vorbei.«
Unter der Dusche, während der warme Wasserstrahl auf Kopf und Schultern fiel und um ihn herum der Dampf aufstieg, sah er an seinem schlanken Körper herunter. Sein Blick fiel auf seinen schlaffen Schwanz, und er verfluchte sich. Du bist so ein Arschloch, so ein verdammter Lügner. Er hatte die Worte laut ausgesprochen. Beschämt drehte er mit einem Ruck den Warmwasserhahn zu. Das eiskalte Wasser konnte ihm sein schlechtes Gewissen nicht nehmen. Schon als Kind hatte Hector wenig von Ausflüchten gehalten. Er wusste, dass er das Valium nicht brauchte und dass es ihm eigentlich nur darum ging, Connie zu sehen. Warum fuhr er nicht einfach an Aishas Praxis vorbei und ließ die Pillen Pillen sein? Nein, das schaffte er nicht. Während er sich mit dem feuchten Handtuch abtrocknete, das nach Seife, nach ihm selbst und nach seiner Frau roch, sah er kein einziges Mal hi den Spiegel. Erst im Schlafzimmer, als er etwas Wachs im Haar verteilte, riskierte er einen Blick. Er bemerkte die grauen Schläfen, das unrasierte Kinn, die Falten in den Mundwinkeln. Sein Kinn war noch straff, das Haar noch voll. Er sah jünger aus als dreiundvierzig.
Fröhlich pfeifend küsste er seine Frau und nahm die Einkaufsliste und den Autoschlüssel vom Küchentisch.
Als er den Motor anließ, dröhnte ein grausam quäkender Popsong durch den Wagen. Er wechselte schnell den Sender, kein Jazz, dafür irgendein angenehmes Gedudel. Aisha hatte die Kinder am Tag zuvor von der Schule abgeholt und sie das Musikprogramm auswählen lassen. Er selbst ließ sich nie vorschreiben, was im Auto gehört wurde, worüber Aisha sich oft lustig machte.
»Nein«, wehrte er sich. »Das können sie tun, wenn sie einen besseren Geschmack haben.«
»Um Gottes willen, Hector, das sind Kinder, die haben keinen Geschmack.«
»Jedenfalls lasse ich sie nicht irgendeinen Top-Forty-Scheiß hören. Ich tue ihnen damit einen Gefallen.«
Da musste Aisha jedes Mal lachen.
Der Parkplatz am Markt war gerammelt voll, Hector schlängelte sich durch die zugeparkten Reihen, bis er endlich einen Platz fand. Der Commodore - zuverlässig, komfortabel und langweilig - war ein Kompromiss gewesen. Davor waren sie unter anderem einen verrosteten Peugeot ohne Handbremse aus den Sechzigern gefahren, von dem sie sich kurz nach Adams Geburt getrennt hatten, ...
Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner
© Klett-Cotta
Hector hatte die Augen noch geschlossen, als er aus einem Traum erwachte, an den er sich schon nicht mehr erinnern konnte. Müde streckte er die Hand aus. Ah, gut. Aisha war schon auf. Er ließ genüsslich einen fahren und vergrub das Gesicht im Kissen, um nicht den modrigen Gestank einatmen zu müssen. Ich habe keine Lust, in einer Männerumkleide zu schlafen, beschwerte Aisha sich jedes Mal, wenn er sich versehentlich in ihrer Gegenwart vergaß. Was allerdings nur selten vorkam. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, sich nur noch gehenzulassen, wenn er allein war. Dann furzte und pinkelte er unter der Dusche, rülpste im Auto und genoss es, wenn sie auf einer Tagung war, sich das ganze Wochenende lang weder zu waschen noch die Zähne zu putzen. Nicht dass seine Frau besonders prüde war, sie ertrug nur offenbar die Ausdünstungen des männlichen Körpers nicht. Er selbst hätte kein Problem damit, in einer Mädchenumkleide einzuschlafen, umgeben vom feuchten, berauschenden Duft süßer junger Mösen. Noch im Halbschlaf drehte er sich auf den Rücken und schob das Laken beiseite. Süße junge Mösen. Er hatte es laut ausgesprochen.
Connie.
Bei dem Gedanken an sie war er endgültig wach. Aisha würde ihn für pervers halten. Doch das war er nicht. Er liebte Frauen ganz einfach. Egal ob jung oder alt, ob sie gerade erst erblühten oder schon anfingen zu verwelken. Er kam sich dabei so eitel vor, dass es ihm schon fast peinlich war, aber er wusste nun mal, dass die Frauen auch ihn liebten. Frauen liebten ihn.
Aufstehen, Hector, sagte er sich. Zeit, den Tag zu beginnen.
Der Tag begann mit einer Reihe von Übungen, die er jeden Morgen absolvierte. Das Ganze dauerte nicht länger als zwanzig Minuten. Manchmal, wenn er mit Kopfschmerzen oder einem Kater
aufwachte, oder beidem zusammen, oder einer Unlust, die offenbar tief aus seinem Inneren kam, war er schon nach zehn Minuten fertig. Es ging ihm nicht so sehr um das strenge Einhalten eines Ablaufs, sondern eigentlich nur darum, überhaupt zu trainieren - selbst wenn er krank war, zwang er sich dazu. Er stand auf, schnappte sich eine Jogginghose, schlüpfte in das T-Shirt, das er am Tag zuvor getragen hatte, und fing mit neun verschiedenen Dehnübungen an, bei denen er jeweils bis dreißig zählte. Dann legte er sich auf den Teppich und machte hundertfünfzig Sit-ups und fünfzig Liegestütze. Am Ende dann nochmal drei Dehnübungen. Danach ging er in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an, lief zu dem kleinen Laden am Ende der Straße und kaufte die Zeitung und eine Schachtel Zigaretten. Zurück zu Hause goss er sich einen Kaffee ein, ging nach draußen auf die Veranda, zündete sich eine Zigarette an, schlug den Sportteil auf und begann zu lesen. In diesem Moment, die Zeitung vor sich aufgeschlagen, mit dem bitteren Kaffeegeruch in der Nase und dem ersten Zug von der Zigarette, waren ihm alle Nöte, die blöden Nichtigkeiten, der Stress und die Sorgen des vorigen oder kommenden Tages egal. ln diesen Momenten, vielleicht sogar nur dann, war er glücklich.
Hector hatte schon als Kind festgestellt, dass die einzige Methode, gegen das erdrückend wohlige Gefühl des Schlafes anzukommen, darin bestand, mit Vollgas hindurchzupreschen, die Augen aufzureißen und aus dem Bett zu springen. Aber diesmal blieb er liegen und ließ sich sanft von den Geräuschen seiner Familie wecken. Aisha hatte in der Küche einen Klassiksender eingestellt, und Beethovens Neunte drang durchs ganze Haus. Aus dem Wohnzimmer hörte er das elektronische Piepen und blecherne Nachhallen eines Computerspiels. Einen Augenblick lang lag er regungslos da, warf dann das Laken zurück und blickte auf seinen nackten Körper. Er hob das rechte Bein und ließ es zurück aufs Bett fallen. Heute ist es so weit, Hector, sagte er sich, heute ist es so weit. Er sprang hoch, zog sich einen roten Sportslip und ein Unterhemd an, ging ins Bad, pinkelte lange und laut und stürmte in die Küche.
Es roch nach Kaffee. Aisha schlug gerade ein paar Eier in die Pfanne. Er küsste ihren Nacken. Mitten im Crescendo schaltete er das Radio aus.
»He, ich wollte das hören.«
Hector ging einen Stapel CDs durch, die neben dem CD-Player lagen. Er nahm eine von ihnen aus der Hülle, legte sie ein und spielte einen Titel nach dem anderen an, bis er das richtige Stück gefunden hatte. Als die ersten Töne aus Louis Armstrangs Trompete erklangen, lächelte er. Er küsste seine Frau noch einmal in den Nacken.
»Heute muss ich Satchmo hören«, flüsterte er ihr zu. »Und zwar den > West End Blues <.«
Er führte seine Übungen langsam aus, atmete dabei gleichmäßig und zählte bis dreißig. Nach jedem Durchgang lauschte er der Musik, der sich langsam steigernden Sinnlichkeit. Bei den Sit-ups konzentrierte er sich auf die Spannung der Bauchmuskeln, und während der Liegestütze auf das Ziehen in seinen Trizepsen und Brustmuskeln. Er wollte seinen Körper spüren, wollte sich lebendig, stark und sicher fühlen.
Als er fertig war, wischte er sich den Schweiß von den Brauen, hob das Hemd, das er am Abend zuvor einfach hingeworfen hatte, vom Boden auf und schlüpfte in seine Sandalen.
»Willst du was vom Laden?«
Aisha lachte. »Du siehst aus wie ein Penner.«
Sie ging nie ohne Make-up und ordentliche Kleidung aus dem Haus. Nicht dass sie sich auffällig schminkte, das hatte sie nicht nötig - es war einer der Punkte, der ihn von vornherein an ihr angezogen hatte. Für Mädchen, die viel Make-up, Puder und Lippenstift trugen, hatte er nie etwas übriggehabt. Er fand das nuttig, und obwohl er wusste, wie lächerlich seine konservative Einstellung war, konnte er sich doch nicht dazu durchringen, eine stark geschminkte Frau gut zu finden. Egal, wie schön sie in Wirklichkeit war. Aisha brauchte kein Make-up. Ihre dunkle Haut war makellos und geschmeidig, und die großen, tief liegenden, schräg abfallenden Augen leuchteten in ihrem schmalen, perfekt geformten Gesicht.
Hector sah auf seine Latschen runter und lächelte. »Und, darf der Penner dir etwas mitbringen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nee. Aber du wolltest noch einkaufen fahren, oder?«
»Hatte ich wahrscheinlich gesagt.«
Sie sah auf die Küchenuhr. »Dann solltest du dich beeilen.«
Er antwortete nicht. Ihr Kommentar ärgerte ihn, er wollte sich an diesem Morgen nicht beeilen. Er wollte ihn ganz ruhig angehen lassen.
Er schnappte sich die Samstagsausgabe der Zeitung und warf einen Zehn-Dollar-Schein auf den Ladentisch. Mr. Ling griff nach der goldenen Packung Peter Jackson Super Mild, aber Hector stoppte ihn.
»Nein, heute nicht. Heute nehme ich eine Schachtel rote Stuyvesant. Im Softpack. Geben Sie mir am besten gleich zwei.« Hector steckte den Zehner wieder ein und legte einen Zwanziger hin.
»Sie wechseln Marke?«
»Das ist mein letzter Tag, Mr. Ling. Ab morgen höre ich auf.«
»Sehr gut.« Der alte Mann lächelte. »Ich rauche nur drei an Tag. Eine Morgen, eine nach Essen und eine, wenn ich fertig mit Arbeit.«
»Ich wünschte, das könnte ich auch.« Die letzten fünf Jahre waren wie ein Karussell gewesen, zigmal hatte er aufgehört und wieder angefangen, sich eingeredet, ruhig fünf am Tag rauchen zu können, warum auch nicht, fünf am Tag waren ja nicht so schlimm, aber dann hatte er sich doch nicht beherrschen können und die ganze Schachtel leergemacht. Jedes Mal. Er beneidete den alten Chinesen. Wie gern würde er bloß vier oder fünf am Tag rauchen. Aber das schaffte er nicht. Zigaretten waren so etwas wie eine teuflische Geliebte für ihn. Oft schon hatte er die Packung unter dem Wasserhahn aufweichen lassen und sie dann in den Müll geschmissen, fest entschlossen, nie wieder zu rauchen. Er hatte es mit kaltem Entzug probiert, mit Hypnose, Pflastern, Kaugummis. Ein paar Tage vielleicht, eine Woche, einmal hatte er es sogar einen ganzen Monat lang geschafft, der Versuchung zu widerstehen. Aber dann schnorrte er eine bei der Arbeit, in der Kneipe oder nach dem Essen, und schon lag er wieder in den Armen seiner verschmähten Geliebten. Und deren Rache folgte prompt. Er war ihr ergeben und außerstande, ohne sie durch den Morgen zu kommen. Sie war zu verlockend.
Eines Sonntagmorgens, als die Kinder bei seinen Eltern waren und Aisha und er wunderbaren, entspannten Sex hatten, schlang er seine Arme um sie und flüsterte: »Ich liebe dich, du bist für mich das Schönste auf Erden, du bist mein Ein und Alles.« Und sie drehte sich mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht zu ihm um und sagte: »Nein, bin ich nicht, deine eigentliche Liebe sind die Zigaretten.«
Es folgte ein schlimmer Streit, der sie beide an den Rand der Erschöpfung brachte - stundenlang schrien sie sich an. Sie hatte ihn tief getroffen, ihn in seinem Stolz verletzt, vor allem, als er beschämt feststellen musste, dass er fieberhaft eine nach der anderen rauchte, um auch nur einigermaßen die Kontrolle zu bewahren. Er hatte ihr vorgehalten, selbstgerecht und außerdem eine kleinbürgerliche Moralpredigerin zu sein, und sie hatte mit einer Litanei seiner Schwächen gekontert: Er sei eitel und faul, passiv und selbstsüchtig und habe keinerlei Willenskraft. Ihre Anschuldigungen schmerzten ihn, weil er wusste, dass sie recht hatte.
Also beschloss er aufzuhören. Ein für alle Mal. Und zwar ohne Ankündigung, sonst musste er sich nur wieder ihre Zweifel anhören. Aber er würde aufhören.
Es war ein warmer Morgen, er setzte sich im Unterhemd mit seinem Kaffee auf die Veranda. Kaum hatte er die Zigarette angezündet, kam Melissa rausgeschossen und lief schreiend in seine Arme.
»Adam lässt mich nicht spielen«, heulte sie. Er nahm sie auf den Schoß, streichelte ihr übers Gesicht und ließ sie weinen, bis sie nicht mehr konnte. Das war das Letzte, was er jetzt brauchte. Ausgerechnet an diesem Morgen. Er wollte die Zigarette ganz entspannt rauchen. Aber man hatte nirgends seine Ruhe. Also spielte er mit ihrem Haar, küsste seine Tochter auf die Stirn und wartete, dass die Tränen verflossen. Melissa sah zu, wie er seine Zigarette ausdrückte und der Rauch verflog.
»Du sollst doch nicht rauchen, Daddy. Davon kriegt man Krebs.«
Sie plapperte nach, was sie in der Schule hörte. Seine Kinder kamen kaum mit dem Einmaleins zurecht, wussten aber, dass Rauchen Lungenkrebs verursachte und man durch ungeschützten Sex Geschlechtskrankheiten bekam. Statt mit ihr zu schimpfen, nahm er sie auf den Arm und trug sie ins Wohnzimmer. Adam war mit seinem Computerspiel beschäftigt und sah nicht mal hoch.
Hector holte tief Luft. Er hätte dem faulen kleinen Mistkerl am liebsten einen Tritt verpasst, setzte seine Tochter dann aber nur neben ihm ab und nahm ihm die Konsole weg.
»Deine Schwester ist dran.«
»Sie ist noch ein Baby. Sie kann das nicht.«
Adam hatte die Arme verschränkt und warf seinem Vater einen rebellischen Blick zu. Sein schwabbeliger Bauch schaute über der Jeans hervor. Aisha behauptete, der Babyspeck würde mit der Pubertät verschwinden, aber da war sich Hector nicht so sicher. Der Junge war besessen von Bildschirmen, er saß entweder vor dem Computer, vor dem Fernseher oder vor seiner Playstation. Seine Trägheit ging Hector auf die Nerven. Er war immer stolz auf sein eigenes gutes Aussehen und seinen durchtrainierten Körper gewesen. Als Teenager hatte er einen ziemlich guten Footballspieler und noch besseren Schwimmer abgegeben. Dass sein Sohn so dick war, empfand er als Beleidigung. Manchmal schämte er sich, mit Adam in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Ihm war bewusst, wie schlimm dieser Gedanke war, deswegen hatte er es nie jemandem gegenüber erwähnt. Trotzdem war er enttäuscht und wies Adam deswegen ständig zurecht. Musst du den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen? Draußen ist es herrlich, warum gehst du nicht raus? Adam reagierte meistens mit Schweigen und Schmollen, und das ärgerte Hector nur noch mehr. Er musste sich auf die Lippen beißen, um ihn nicht zu beleidigen. Hin und wieder sah Adam ihn dann aber wieder derartig verwirrt und verletzt an, dass Hector vor Scham fast im Erdboden versank.
»Komm schon, lass sie auch mal.
»Die kriegt das eh nicht hin.«
»Los jetzt.«
Der Junge warf die Konsole zu Boden, stand schwankend auf,
stürmte in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Melissa fasste nach der Hand ihres Vaters und sah ihrem Bruder
nach. »Ich will spielen.« Sie weinte schon wieder.
»Spiel doch allein.«
»Ich will mit Adam spielen.«
Hector griff nach den Zigaretten in seiner Tasche.
»Du hast genauso ein Recht darauf wie er. Das war unfair von Adam. Er kommt bestimmt gleich und spielt mir dir, warte nur ab.« Er sprach bewusst ruhig, leierte die Plattitüden in einem fast kindlichen Singsang runter, aber Melissa ließ sich nicht besänftigen.
»Ich will mit Adam spielen«, jammerte sie und drückte seine Hand fester. Sein erster Instinkt war, sie wegzuschieben. Schuldbewusst streichelte er ihr übers Haar und küsste sie auf den Kopf.
»Hast du Lust, mit mir einkaufen zu fahren?«
Melissa heulte zwar nicht mehr, wollte sich aber noch nicht geschlagen geben. Sie starrte traurig auf Adams Tür.
Hector schüttelte seine Hand frei. »Es ist deine Entscheidung, Schatz. Du kannst hierbleiben und alleine Videospiele spielen oder mit mir einkaufen kommen. Was möchtest du lieber?«
Das Mädchen antwortete nicht.
»Okay.« Hector zuckte mit den Schultern und steckte sich eine Zigarette in den Mund. »Wie du willst.« Auf dem Weg in die Küche hörte er sie wieder weinen.
Aisha trocknete sich die Hände ab. Sie zeigte auf die Uhr.
»Ich weiß, ich weiß. Ich will doch nur verdammt nochmal in Ruhe eine einzige Zigarette rauchen.«
Er hatte erwartet, dass Aisha in den Chor einstimmte, der ihm
an diesem Morgen entgegenschlug, aber sie fing an zu grinsen und küsste ihn auf die Wange.
»Okay, wer von beiden hat Schuld?«
»Adam. Auf jeden Fall Adam.«
Er setzte sich auf die Veranda und rauchte seine Zigarette. Drinnen hörte er Aisha ruhig auf seine Tochter einreden. Wahrscheinlich kniete sie schon neben Melissa und spielte mit ihr das Videospiel. Gleich würde Adam aus seinem Zimmer kommen, sich aufs Sofa setzen und den beiden zugucken. Bis schließlich irgendwann nur noch die Kinder vor der Konsole saßen und Aisha sich in die Küche zurückgeschlichen hatte. Er staunte, wie viel Geduld seine Frau hatte und wie wenig er selbst. Manchmal fragte er sich, wie seine Kinder Respekt vor ihm haben sollten, wenn sie älter waren - und ob sie ihn überhaupt je lieben würden.
Connie liebte ihn. Sie hatte es ihm gesagt. Er wusste, dass es ihr fast körperliche Schmerzen bereitet hatte, die Worte auszusprechen, dass sie fast daran erstickt wäre. Aisha hatte ihm natürlich auch oft gesagt, dass sie ihn liebte, aber immer ganz ruhig und unbekümmert, als wäre sie von Anfang an sicher gewesen, dass er sie genauso liebte. Jemandem zu sagen, dass man ihn liebt, sollte nie ohne Leidenschaft sein. Connie hatte die Worte panikartig hervorgestoßen, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Sie hatte sich nicht getraut, ihn dabei anzusehen, und sich im selben Moment eine Locke in den Mund gesteckt, die er dann beiseite-gestrichen hatte, um sie auf den Mund zu küssen. »Ich liebe dich auch«, hatte er geantwortet. Und das tat er wirklich. Monatelang hatte er kaum an etwas anderes denken können. Aber er hatte sich nicht getraut, es Connie zu sagen. Sie hatte die Worte zuerst ausgesprochen.
»Hast du noch Valium?«
»Nein.« Er hörte den Vorwurf in Aishas Stimme und sah, wie sie zur Küchenuhr schaute. »Ich habe jede Menge Zeit.«
»Wofür brauchst du Valium?«
»Ich brauche es nicht. Ich will es einfach. Damit ich nachher beim Barbecue lockerer bin.«
Aisha lächelte plötzlich, ihre Augen funkelten schelmisch. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, ging hinein und zog seine Frau in die Arme. »Ich habe jede Menge Zeit, ich habe jede Menge Zeit«, sang er. Er küsste die Finger ihrer linken Hand, roch den süßen Geruch von Kümmel und Limonensaft. Sie küsste ihn zurück und schob ihn dann sanft weg.
»lst es so schlimm?«
»Nein, überhaupt nicht.« Natürlich hätte er an einem Samstagabend lieber etwas anderes gemacht, als sich um Familie, Freunde und Arbeitskollegen zu kümmern. Ganz bestimmt hätte er den letzten Tag seines Lebens als Raucher gern für sich gehabt. Aber Aisha wollte sich mit ihrer kleinen Feier für zahllose Einladungen zu Abendessen und Partys revanchieren. Sie hatte das Gefühl, dass sie es ihrem Bekanntenkreis schuldig waren. Hector empfand das nicht so. Aber er war ein großartiger Gastgeber und verstand, wie wichtig dieser Abend für seine Frau war.
»Schlimm ist es nicht, aber ein bisschen Valium könnte nicht schaden. Nur für den Fall, dass meine Mutter mir heute Abend wieder auf die Nerven geht.«
»Normalerweise bist nicht du es, dem sie auf die Nerven geht.« Aishas Blick wanderte zurück zur Uhr. »Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, in die Praxis zu fahren und welches zu besorgen.«
»Kein Problem, ich fahre nach dem Einkaufen einfach dort vorbei.«
Unter der Dusche, während der warme Wasserstrahl auf Kopf und Schultern fiel und um ihn herum der Dampf aufstieg, sah er an seinem schlanken Körper herunter. Sein Blick fiel auf seinen schlaffen Schwanz, und er verfluchte sich. Du bist so ein Arschloch, so ein verdammter Lügner. Er hatte die Worte laut ausgesprochen. Beschämt drehte er mit einem Ruck den Warmwasserhahn zu. Das eiskalte Wasser konnte ihm sein schlechtes Gewissen nicht nehmen. Schon als Kind hatte Hector wenig von Ausflüchten gehalten. Er wusste, dass er das Valium nicht brauchte und dass es ihm eigentlich nur darum ging, Connie zu sehen. Warum fuhr er nicht einfach an Aishas Praxis vorbei und ließ die Pillen Pillen sein? Nein, das schaffte er nicht. Während er sich mit dem feuchten Handtuch abtrocknete, das nach Seife, nach ihm selbst und nach seiner Frau roch, sah er kein einziges Mal hi den Spiegel. Erst im Schlafzimmer, als er etwas Wachs im Haar verteilte, riskierte er einen Blick. Er bemerkte die grauen Schläfen, das unrasierte Kinn, die Falten in den Mundwinkeln. Sein Kinn war noch straff, das Haar noch voll. Er sah jünger aus als dreiundvierzig.
Fröhlich pfeifend küsste er seine Frau und nahm die Einkaufsliste und den Autoschlüssel vom Küchentisch.
Als er den Motor anließ, dröhnte ein grausam quäkender Popsong durch den Wagen. Er wechselte schnell den Sender, kein Jazz, dafür irgendein angenehmes Gedudel. Aisha hatte die Kinder am Tag zuvor von der Schule abgeholt und sie das Musikprogramm auswählen lassen. Er selbst ließ sich nie vorschreiben, was im Auto gehört wurde, worüber Aisha sich oft lustig machte.
»Nein«, wehrte er sich. »Das können sie tun, wenn sie einen besseren Geschmack haben.«
»Um Gottes willen, Hector, das sind Kinder, die haben keinen Geschmack.«
»Jedenfalls lasse ich sie nicht irgendeinen Top-Forty-Scheiß hören. Ich tue ihnen damit einen Gefallen.«
Da musste Aisha jedes Mal lachen.
Der Parkplatz am Markt war gerammelt voll, Hector schlängelte sich durch die zugeparkten Reihen, bis er endlich einen Platz fand. Der Commodore - zuverlässig, komfortabel und langweilig - war ein Kompromiss gewesen. Davor waren sie unter anderem einen verrosteten Peugeot ohne Handbremse aus den Sechzigern gefahren, von dem sie sich kurz nach Adams Geburt getrennt hatten, ...
Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner
© Klett-Cotta
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Autoren-Porträt von Christos Tsiolkas
Christos Tsiolkas, geboren 1965 im australischen Melbourne als Sohn griechischer Immigranten, arbeitet u.a. fürs Theater und Fernsehen. Mit »Nur eine Ohrfeige« legte er sein bislang erfolgreichstes Buch vor, das auch über Australien hinaus für Furore sorgte und mit dem »Commonwealth Writers' Prize« bedacht wurde sowie für den »Man Booker Prize« nominiert war. Tsiolkas lebt in Melbourne.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christos Tsiolkas
- 2012, 510 Seiten, Maße: 14,8 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Nicolai von Schweder-Schreiner
- Verlag: Klett-Cotta
- ISBN-10: 3608939024
- ISBN-13: 9783608939026
- Erscheinungsdatum: 17.02.2012
Rezension zu „Nur eine Ohrfeige “
»Unbarmherzig seziert er die australische Mittelschicht, eine Gesellschaft voller Heucheleien, Kränkungen, Beleidigungen. Ein Pulverfass.«Simon Broll, SPIEGEL Online, 05.03.2012»In einer quasi spiralförmigen Bewegung, ähnlich den Kreisen, die ein auf die Oberfläche eines scheinbar ruhigen Sees aufschlagender Stein entstehen lässt, führt er seine Leser vom Thema der Ehe hin zu den Schwierigkeiten der Familie, um letztlich den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt in Augenschein zu nehmen, für den die Familie auch in diesem Roman als mikroskopisches Abbild fungiert«Claudia Kramatschek, Neue Zürcher Zeitung, 25.07.2012»Ein farbiges, packendes Buch ... Gebannt folgen wir ihren Geschichten, denn Christos Tsiolkas gelingt ein doppeltes Kunststück. Er hat ein Buch geschrieben, das ein intelligenter Reisser ist, ein Page-Turner, den man nicht mehr aus der Hand legt, bis man auf der letzten Seite angelangt ist, zugleich aber ein Buch mit formalem Anspruch ... Dieser Autor moralisiert nicht. Er stellt nur dar. Über die spannende Handlung, die differenzierten Psychogramme hinaus gibt er uns das Panorama einer dynamischen Gesellschaft, in welcher unterschwellig nach wie vor der Kampf zwischen "wogs" und "skips" tobt, zwischen Immigranten mit dunkler Haut und den weissen, englischsprachigen Australiern. Im Schmelztiegel der Kulturen baut, funktioniert, denkt man vielleicht modern. Aber man fühlt immer noch archaisch. Ganz wie bei uns.«Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, 11.03.2012»Das australische Sittengemälde des aus Melbourne stammenden Christos Tsiolkas verhandelt äußerst lebendig Fragen: Herkunft, Moral, Ehre, Toleranz, Zusammenhalt, Zerwürfnis.«stern, 03.05.2012»[Ein] Gesellschaftsroman ... den Sie so schnell nicht wieder aus der Hand legen werden.«Myself, Juli 2012»Dass all diese Figuren aber durchaus nachvollziehbare Gründe für ihr Verhalten haben und uns dadurch ans Herz wachsen
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- das beweist, was für ein grosser Autor Christos Tsiolkas ist.«Thomas Bodmer, Tages-Anzeiger, 07.03.2012»Ein Prachtstück heutiger Literatur: stark erzählt, gewaltig komponiert, bis zum letzten Wort fesselnd.«Arno Renggli, Neue Luzerner Zeitung, 05.04.2012»Grandioser Einblick in die scheinheilige Vorstadtidylle Melbournes.«ELLE, April 2012»Ein gnadenlos guter Gesellschaftsroman!«Tanja Beuthien, Freundin, 3/2012»Ein grandioser Gesellschaftsroman: bissig, hellsichtig und mit viel Liebe für seine strauchelnden Figuren.«Annabelle, 22.02.2012»Tsiolkas stülpt sehr gekonnt das Innere seiner Figuren nach außen, zeigt, wie sie fühlen und wie sie danach handeln.«Cord Beintmann, Stuttgarter Zeitung, 02.03.2012»Es ist "nur eine Ohrfeige". Aber sie zeigt eine Wahrheit zu der alle Stellung beziehen müssen ... Tsiolkas erzählt aus acht verschiedenen Perspektiven. Und macht seinen Roman damit zu einem Seelenpanoptikum. Die Identifikationsmöglichkeiten sind zahlreich und der Leser gerät immer tiefer in den Strudel des Loyalitätskonflikts. Wer hat Recht? Wer trägt Schuld?«Claudia Lehnen, Kölner Stadt-Anzeiger, 25./26.02.2012»Ein Roman, der die Seelenlage der heutigen "mittleren Generation" mit all ihrer vermeintlichen Sorglosigkeit an manchem Nerv pfeilgenau trifft.«Christian Mückl, Nürnberger Zeitung, 27.02.2012»Hervorragend, aber so roh, so bissig, so böse, dass man zuweilen hofft, er überzeichne ein wenig.«Renata Schmid, Kulturtipp, August 2012»Erhellend.«Kieler Nachrichten, 19.9.2012»Der grandiose Roman "Nur eine Ohrfeige" von Christos Tsiolkas ist ein literarischer Rundumschlag, ein nachdenklich stimmendes Generationenporträt und eine schonungslose Bestandsaufnahme moderner Lebensentwürfe ... Tsiolkas reißt seinen Figuren behutsam die Masken vom Gesicht und lässt sie in ihrer ganzen Blöße dastehen. Erzählend entzaubert er das moderne Familienideal. Ganze Denkwelten der westlichen Hemisphäre lotet er aus und hinterfragt ungemein scharfsinnig die Bedeutung von Liebe, Familie und Freundschaft.«Anke Breitmaier, Offenbach Post, 03.04.2012»Ein zu Recht gefeierter Roman, der subtil einen Blick hinter die Fassaden von Suburbia wirft.«Ulrich Rüdenauer, Meier, Juni 2012»Ein genialer Gesellschaftsroman über modernes Familienleben.«Dresdner Morgenpost, 28.02.2012»Die Familie als kleinstmögliche Terrorzelle - der grandiose Roman von Christos Tsiolkas ist ein literarischer Rundumschlag, ein nachdenklich stimmendes Generationenporträt und eine schonungslose Bestandsaufnahme moderner Lebensentwürfe ... Tsiolkas reißt seinen Figuren behutsam die Masken vom Gesicht und lässt sie in ihrer ganzen Blöße dastehen. Erzählend entzaubert er das moderne Familienideal, ganze Denkwelten der westlichen Hemisphäre lotet er aus und hinterfragt scharfsinnig die Bedeutung von Liebe, Familie und Freundschaft.«Anke Breitmeier, Thüringer Allgemeine, 03.03.2012»Ja, bei diesem Roman von Christos Tsiolkas kann man von einem großen Wurf sprechen, von einer echten Entdeckung, die sprachlich, formal und inhaltlich einiges zu bieten hat.«Erik Lim, Hohenloher Tagblatt, 17.4.2012
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Kommentare zu "Nur eine Ohrfeige"
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