Psychotraumatologie
Das Lehrbuch
Bei seelischen Krankheiten wird, im klinischen Kontext sowie in der Öffentlichkeit, zunehmend von "Trauma" und "Traumatisierung" gesprochen. Zur Therapie von Menschen, deren seelische Erkrankung auf überwältigende Erfahrungen zurückgeht, sind...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Psychotraumatologie “
Bei seelischen Krankheiten wird, im klinischen Kontext sowie in der Öffentlichkeit, zunehmend von "Trauma" und "Traumatisierung" gesprochen. Zur Therapie von Menschen, deren seelische Erkrankung auf überwältigende Erfahrungen zurückgeht, sind Spezialkenntnisse erforderlich. Dieses praxisorientierte, auf breiter klinischer Erfahrung beruhende Lehrbuch führt umfassend und mit einem vielschichtigen Blick in die Geschichte und den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Psychotraumatologie ein. Es beschreibt alle relevanten Krankheitsbilder, deren Diagnostik und Therapie, und verdeutlicht, wo Weiterentwicklungen zu erwarten sind.
Klappentext zu „Psychotraumatologie “
Bei seelischen Krankheiten wird zunehmend von "Trauma" und Traumatisierung gesprochen. Zahlreiche Therapeuten haben sich auf seelische Traumatisierungen spezialisiert, und viele Kliniken haben "Traumastationen" eingerichtet. Zur Therapie von Menschen, deren seelische Erkrankung auf überwältigende Erfahrungen zurückgeht, sind Spezialkenntnisse erforderlich. Dieses praxisorientierte, auf breiter klinischer Erfahrung beruhende Lehrbuch führt umfassend in die Geschichte und den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Psychotraumatologie ein. Es beschreibt alle relevanten Krankheitsbilder, deren Diagnostik und Therapie, und verdeutlicht, wo Weiterentwicklungen zu erwarten sind.
Lese-Probe zu „Psychotraumatologie “
Psychotraumatologie von Günter H. Seidler1 Einführung in Geschichte und zentrale Themen der Psychotraumatologie
1.1 Die Eisenbahn, der Vietnamkrieg und die Frauenbewegung: Stationen der Entwicklung eines Krankheitsmodells
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Das, was wir heute »Traumafolgestörungen« nennen, dürfte es schon immer gegeben haben. Naturkatastrophen, große Hungersnöte und gewaltige Epidemien, Kriege, das, was wir heute »Arbeitsunfälle« nennen, Macht, die noch unverhüllter als gegenwärtig mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt wurde, und Gewalt gegen Frauen und Kinder dürften allgegenwärtig gewesen sein. Eindrucksvoll ist der Versuch von Shay (1995), das Schicksal amerikanischer Vietnam-Veteranen auf dem Hintergrund des klassischen Stoffs der Ilias zu lesen und umgekehrt die Situation und das Erleben von deren Protagonisten Achill in Konzepten heutiger psychotraumatologischer Krankheitslehre zu beschreiben. Biologische Reaktionen auf Todesangst dürften weitgehend kulturinvariant ablaufen.
Die Geschichtsschreibung der Psychotraumatologie allerdings reicht nicht viel weiter zurück als bis in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts (Fischer- Homberger 1975; Micale und Lerner 2001). Die Zeit davor ist medizinhistorisch unter einer Traumaperspektive kaum untersucht. Seidler und Eckart (2005 a) gehen einen anderen Weg in ihrem Versuch, Grundlagen einer historischen Traumaforschung zu legen, indem sie fragen, welche Auswirkungen Gewalterfahrungen auf verschiedene Systeme und Orientierungen in einer Gesellschaft haben. Diese Fragestellung ist aber zu unterscheiden von dem Versuch, die Geschichte einer bestimmten Disziplin - hier: die der Psychotraumatologie - zu schreiben. Die historische Traumaforschung ist vielmehr ein neuer Ansatz innerhalb der Psychotraumatologie, der überpersönliche Auswirkungen von individuellen Gewalterfahrungen vieler Menschen auf kulturelle Phänomene untersucht.
Die Beschreibung der für die heutige Psychotraumatologie relevanten Krankheitsbilder beginnt im 19. Jahrhundert. Diese Zeit ist durch eine rasante Industrialisierung gekennzeichnet, aber auch durch Urbanisierung mit den Megametropolen London und Paris und durch eine neuartige, scheinbar alles umfassende Nachrichtentechnik (Eckart 1997), die auch Informationen über große Unfälle schnell in alle Welt trägt. Für viele Menschen wurde ein Bruch in einer vormals als intakt wahrgenommenen Welt spürbar. Die Welt war nicht mehr bergend - oder, wohl richtiger, eine entsprechende Illusion ließ sich nicht mehr aufrecht halten, und Menschen waren nicht das, was sie zu sein schienen. Entsprechend ist eines der Hauptthemen dieser Zeit das des Doppelgängers (Böschenstein 1987; Hoffmann 1815/1816; Stevenson 1886b). Gegen Ende jenes Jahrhunderts entstanden in dem Bereich des Wissens, der heute »psychologische Medizin« heißt, die auch heute noch relevanten großen Krankheitslehren der psychosozialen Medizin. Janet (1889) entwarf seine Dissoziationslehre, Freud (1896 c) seine Arbeiten zur Hysterie, Kraepelin (1883) publizierte seinen ersten Entwurf eines Systems zur Klassifizierung seelischer Störungen und Oppenheim (1889) sein Buch »Die traumatischen Neurosen«, wobei er diesen Begriff bereits ein Jahr zuvor eingeführt hatte (Oppenheim 1888).
Ein Kristallisationspunkt für Ängste vor technischen Neuerungen war die neu aufgekommene Eisenbahn. Wie auch die medizinische Welt auf diese Veränderungen reagierte, beschreibt Schivelbusch (1977). Zur Kennzeichnung der Krankheitssymptomatik von Menschen, die bei einem Eisenbahnunfall zu Schaden gekommen waren, tauchte Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff des »railwayspine « auf. Erstmals schriftlich scheint das Wort bei Erichsen (1866) vorzukommen, aber sein Gebrauch dieses Wortes lässt vermuten, dass der Begriff bereits benutzt wurde. Erichsen hält die Erkrankung für den Ausdruck einer chronischen Myelitis (darum »spine«), spricht aber auch - in sehr vorsichtiger Annäherung - der direkten psychischen Einwirkung ihre ursächliche Beteiligung an den körperlichen Symptomen nicht ganz ab. Diese Linie wird besonders sichtbar in seinem zweiten Buch zum Thema (Erichsen 1875), das eine Erweiterung und Überarbeitung des ersten darstellt. Obwohl er auch hier in erster Linie »molecular changes« im Rückenmark als Ursache vermutet und in zweiter Linie Entzündungsvorgänge (S. 15), kann er sich auch eine Situation von »mental or moral unconsciousness« vorstellen, hervorgerufen durch das Entsetzen des Unfalles, die zu einem Zusammenbruch der Kontrollfunktionen des Gehirnes führe (S. 195).
Einige der nachfolgenden Autoren haben dann immer stärker eine direkte Psychogenese der Symptomatik vertreten. Das gilt insbesondere für Page (1883), der als Kritiker der organ-genetisch orientierten Ansichten von Erichsen auftrat. Er betonte die Wirkung von Angst und Schreck und führte in seinem zweiten Buch (1891) den Begriff des »general nervous shock« (S. 62) ein, der als »Schreckneurose « von Kraepelin (1883) weiter tradiert wurde: »The thing essential for suggestion to have any influence is the special psychic state, induced immediately by nervous shock« (S. 69). Allerdings wurde die Position von Page dann vermehrt von den Eisenbahngesellschaften dazu herangezogen, Schadenersatzansprüche Geschädigter abzuwehren mit dem Argument, es lägen keine auf einen bestimmten Unfall zurückzuführenden körperlichen Schädigungen vor - im Übrigen eindeutig gegen seine Intention. Von der Systematik her rückt Page die - heute so genannten - posttraumatischen Störungen in die Nähe dessen, was (sc.: damals) als »Hysterie« bezeichnet wurde, insbesondere wegen des gemeinsamen Merkmals des Kontrollverlusts (Page 1891, S. 52- 53). Harrington (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Erstbeschreiber der Railway-Krankheiten Chirurgen waren. Auch nennt er Zahlen über die Häufigkeit von Eisenbahnunfällen in der damaligen Zeit. Danach waren es weniger die absoluten Zahlen der Todesfälle als vielmehr das mit ihnen verbundene öffentliche Interesse an der als überwältigend erlebten technischen Neuerung der Eisenbahn, das hier die Fachwelt und die Öffentlichkeit von einem neuen Krankheitsbild sprechen ließ, und zwar auch im Dienste der Warnung vor diesen technischen Neuerungen. Schon hier, in der Zeit der Genese erster Konzepte traumatogener Krankheitsbilder, beginnt die Funktionalisierung psychisch traumatisierter Menschen: Sie wurden offenbar von Anbeginn an ge- bzw. benutzt, um dieses oder jenes im Dienste ganz anderer Interessen zu beweisen oder zu widerlegen. Diese Art von Funktionalisierung dauert bis heute an und beraubt die Betroffenen jeweils erneut ihrer eigenen Subjektivität. Ein Grund für die den Eisenbahnunfällen damals zukommende Aufmerksamkeit war offenbar auch darin zu suchen, dass deutlich wurde, dass es lediglich von äußeren Zufälligkeiten abhing, ob jemand verletzt wurde bzw. zu Tode kam oder unversehrt den Ort des Geschehens verließ.
In Deutschland wurde der Neurologe Hermann Oppenheim (1858 - 1919) für die frühe Psychotraumatologie bedeutsam. Er löst sich aus der einengenden Fokussierung auf Überlebende von Eisenbahnunfällen und bezieht Betroffene von Arbeitsunfällen mit ein - auch auf dem Hintergrund, dass 1884 in Deutschland eine gesetzliche Unfallversicherung wirksam geworden war und Nervenärzte jetzt Unfallfolgen zu begutachten hatten. Im Vorwort zu seinem Buch »Die traumatischen Neurosen« (1889) nennt Oppenheim seine Absicht, »eine zusammenfassende Darstellung jener durch Verletzungen hervorgerufenen Erkrankungen des Nervensystems zu liefern, die nicht durch eine direkte Beschädigung der nervösen Centralorgane oder des peripherischen Nervenapparates, sondern auf dem Wege der Erschütterung im allgemeinsten Sinne des Wortes entstanden sind« (S. V). In seinem Theorieteil heißt es dann: »Die Hauptrolle spielt das psychische: der Schreck, die Gemüthserschütterung« (S. 123, Hervorhebung im Original). »Die im Momente des Unfalls eintretende schreckhafte Aufregung ist meistens so bedeutsam, daß sie eine dauernde psychische Alteration bedingt« (S. 124). Insgesamt führen ihn seine Beobachtungen zu der Auffassung, dass posttraumatische Symptome eine eigene Krankheitskategorie darstellen, für die er die Bezeichnung »traumatische Neurose« vorschlägt.
Die Reichsversicherungskammer sah auch die traumatischen Neurosen als erstattungspflichtig an (Fischer-Homberger 1987). Eine Leistungspflicht wurde häufig auf der Grundlage des Ansatzes von Oppenheim begründet. Deshalb wurde dieser Autor für diese zahlenmäßig zwar geringen, trotzdem aber von vielen als ungerechtfertigt angesehenen Rentenansprüche verantwortlich gemacht. Wortführer war der Psychiater Hoche (1935) mit dem Argument, die Entschädigungsmöglichkeit habe ein pathologisches Rentenbegehren induziert - auch heute noch taucht es gelegentlich in klinischen Konferenzen und Gutachten auf, sicherlich häufiger als angemessen. Damals wie heute gilt, dass Traumatisierte in der Regel in erster Linie als solche wahrgenommen werden wollen und eher selten an Geld und damit an einer Festlegung auf eine Opferrolle interessiert sind (Maercker und Müller 2004). Es begann eine sehr scharf geführte Diffamierungskampagne gegen Oppenheim (Lerner 1997, 2001). Eine Marginalisierung von Forscherinnen und Forschern sowie Therapeutinnen und Therapeuten, die sich mit Traumatisierten beschäftigen, durchzieht allerdings die gesamte Geschichte (Herman 1992b, S. 19).
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Psychoanalyse. Ihr Interesse galt von Anfang an zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen mit ihren Auswirkungen und Konsequenzen, historisch damals sehr bald eingeengt auf deren motivationale, intrapsychische, unbewusste Seite im Individuum, weniger den Auswirkungen und Belastungen durch eine immer technisierter werdende Welt mit ihren Problemen und Unfällen. Im häufig zitierten Text »Zur Ätiologie der Hysterie« stellte Freud (1896 c) ». . . die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich . . . ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören« (S. 439, Hervorhebung im Original). Freud zweifelt nicht nur nicht (!) an der Glaubhaftigkeit der Berichte seiner Patientinnen, sondern geht sogar davon aus, dass diese Bedingung der Hysterie viel häufiger erfüllt sei, als es das Vorliegen des Krankheitsbilds vermuten lasse (S. 448). Später nimmt er von dieser Meinung Abstand. In einem Zusatz schreibt er nämlich knapp 30 Jahre später: »All dies ist richtig, aber es ist zu bedenken, daß ich mich damals von der Überschätzung der Realität und der Geringschätzung der Phantasie noch nicht frei gemacht hatte« (1896 c, S. 440). Die Diskussion darüber, ob Freud die sog. Verführungshypothese vollständig oder nur teilweise oder aber gar nicht verworfen habe, ist nicht abgeschlossen (Grubrich- Simitis 1998; Israels und Schatzman 1993; Masson 1984; May-Tolzmann 1996). Hilfreicher als derartige Diskussionbeiträge wären Untersuchungen, auf welchem gesellschaftlichen Hintergrund Freud welchen Repressalien wirklich ausgesetzt war, solange er an der traumatischen Genese der Hysterie eindeutig festgehalten hatte, könnte so eine Studie doch zum Verständnis aktueller Verwerfungsimpulse der Psychotraumatologie gegenüber heute beitragen.
Unklar ist, wer das Wort »Verführungshypothese« zur Bezeichnung für sexuellen Missbrauch eingeführt hat; von Freud stammt es nicht. Natürlich ist damit gemeint, dass das Kind den Erwachsenen verführt.
Im Ersten Weltkrieg haben nach vorsichtigen Schätzungen (Ruggenberg 2010) allein auf deutscher Seite mindestens 600 000 Soldaten das erlitten, was wir heute als Traumafolgestörung bezeichnen. Umgangssprachlich wurden die Betroffenen im deutschen Sprachraum Kriegszitterer oder Schüttler bezeichnet. Wissenschaftliche Bezeichnungen lauteten auf Kriegsneurose, traumatische Neurose, Zweckoder Schreckneurose, Shell-Schock oder, im Englischen, als »shell shock«, »war strain«, »gas neurosis«, »buried alive neurosis«, »soldier's heart«, »war neurasthenia « oder »anxiety neurosis« (Myers 1940; Lerner und Micale 2001, S. 17). Die genannte Zahl umfasst aber nur die, die mit derartigen Diagnosen registriert worden waren, also einen kleinen Bruchteil. Britische Schätzungen besagen, dass 7- 10% ihrer Offiziere und 3- 4% anderer Ränge von derartigen Störungen betroffen waren. Allerdings war den britischen Armeeärzten im Laufe des Krieges verboten worden, die Diagnose »shell shock« bei Zugehörigen unterer Ränge zu stellen. Ab Juni 1917 durfte die Diagnose überhaupt nicht mehr vergeben werden, an deren Stelle trat die Bemerkung: »NYD(N)«, kurz für »Not Yet Diagnosed (?Nervousness)« (Ruggenberg 2010).
Die Wirkung von Gewalt auf alle Menschen war also bekannt, und eine »Gewaltfolgenlehre« - die Psychotraumatologie - hätte sich durchaus in jener Zeit etablieren können, wie auch schon 50 Jahre zuvor. Aber die »Erforschung psychischer Traumata« zeigte immer wieder »Phasen der Amnesie«: »Bei der Erforschung psychischer Traumata stieß man wiederholt in Bereiche des Undenkbaren vor und kam zu grundlegenden Glaubensfragen« (Herman 1992b, S. 17). Auch heute noch gilt: Je entsetzlicher eine Gewalttat, umso stärker die Skepsis gegenüber ihrer Realität. So galt in der Zeit des Ersten Weltkrieges auch die sozialdarwinistische Auffassung, nach der die Starken im Kampfe gefallen seien und nur die - natürlich vorher schon - Schwachen überlebt hätten. Max Nonne (1861 - 1959) schrieb: »Die besten werden geopfert, die körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge werden sorgfältig konserviert, anstatt daß bei dieser günstigen Gelegenheit eine gründliche Katharsis stattgefunden hätte, die zudem durch den Glorienschein des Heldentodes die an der Volkskraft zehrenden Parasiten verklärt hätte« (Nonne 1922, S. 112).
Die Wirkung von Gewalt wurde damit einer schon vorher bestehenden Schwäche attribuiert. Bonhoeffer (1868 - 1948) meinte dazu, dass sich »fast ausnahmslos « habe feststellen lassen, dass es sich bei Soldaten mit solchen Erscheinungsbildern »um Individuen handelte, die schon früher konstitutionell psychopathische Erscheinungen dargeboten hatten« (Bonhoeffer 1914, S. 1777). Auch Simulation wurde geltend gemacht und entsprechend waren die Therapiemaßnahmen. Mit elektrischen Stromstößen als Überrumplungsmaßnahme, stundenlangen Anwendungen schmerzhaftester elektrischer Sinusströme - die »Kaufmann-Kur« -, Röntgenbestrahlungen in Dunkelkammern, wochenlangen Isolationsfoltern, der Provokation von Erstickungstodesangst durch Kehlkopfsonden oder -kugeln, herzlos inszenierten Scheinoperationen in Äthernarkose und vielem anderen mehr wurde versucht, der Traumafolgestörungen, die als Ausdruck von Simulation und Willensschwäche angesehen wurden, Herr zu werden. Eine kurze Beschreibung dieser Methoden gibt Eckart (2005), ausführlichere Darstellungen sind bei Riedesser und Verderber (1996) zu finden. Die »Behandlung« sollte entsetzlicher sein als der Fronteinsatz und die Betroffenen sollten deshalb in den Krieg zurückkehren wollen. Kritisch hat sich allerdings der bereits erwähnte Psychiater Nonne (1917) gegen derartige Behandlungsformen ausgesprochen, zugunsten der von ihm propagierten Hypnosebehandlung.
Insbesondere der amerikanische Psychiater Abram Kardiner (1891 - 1981, Lehranalysand von Freud) stand außerhalb des Mainstreams. Im Jahre 1941 hat er seine Erfahrungen aus den Nachkriegsbehandlungen von Soldaten des Ersten Weltkrieges veröffentlicht, und 1947 ist dasselbe Buch in völliger Überarbeitung, unter Berücksichtigung der Erfahrungen des Ko-Autors Spiegel aus dem Zweiten Weltkrieg erneut erschienen. Das, was dann später als PTSD bezeichnet wurde, nannte Kardiner eine »physioneurosis« (1941, S. 195). 50 Jahre später sollten seine klinischen Einschätzungen durch neurobiologische und hormonelle Forschungsbefunde gestützt werden. Pet Barker (1991, 1993, 1995) hat in ihren Romanen versucht, das Grauen des Ersten Weltkrieges wiederzugeben. Die Bücher geben auch einen Einblick in die Realität der damaligen Psychotraumatherapie.
Auch die moderne Zivilbevölkerung ist seit den beiden Weltkriegen - zuvor in der Antike über das Mittelalter bis zur Zeit der Kabinettskriege - in großem Ausmaße Traumatisierungen ausgesetzt (van Creveld 1991; Schivelbusch 1977). Allerdings wurde der Frage nach Traumafolgestörungen in der Bevölkerung weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg nachgegangen. Dies hätte durchaus auch ohne die heute aktuelle Begrifflichkeit geleistet werden können. In Deutschland fand allerdings Mitscherlich (1963, 1967) große Beachtung mit seinen sozialpsychologischen Studien zur damaligen Situation.
Schepank (1987) hat die im internationalen Vergleich enorm große Anzahl von Psychotherapiebetten in der (alten) Bundesrepublik Deutschland beschrieben, und auch dem Ausbau der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung der BRD wurde im Nachkriegsdeutschland große Beachtung geschenkt. Es kann vermutet werden, dass sich kriegsbedingte seelische Traumatisierungen unter anderen Diagnosen, wie etwa Neurasthenie oder Depression, versteckten, dass aber der Zusammenhang zu Kriegsereignissen nicht wahrgenommen wurde. So wurden 1967 in Deutschland die Psychotherapierichtlinien in Kraft gesetzt (Faber et al. 1999, S. 1; Rüger et al. 2005, S. 1), die die Leistungspflicht der Krankenkasse für die psychotherapeutische Behandlung seelischer Krankheiten verbindlich definierten. Allerdings galt von Anbeginn an die Forderung, dass für eine anzuerkennende Leistungspflicht psychoanalytische bzw. später auch verhaltensanalytische Genesekriterien der zur Diskussion stehenden Krankheitsbilder erfüllt sein mussten. »Äußere Belastungsfaktoren, seien sie auch in der allgemeinen Erfahrung von großem Gewicht, machen den Patienten nicht ohne weiteres seelisch krank« (Faber et al. 1999, S. 15). Damit wurde die Aufmerksamkeit - für den Bereich der psychodynamischen Therapieverfahren - auf die Suche nach einem unbewussten seelischen Konflikt gelenkt, was skurril ist, wenn es um die Anerkennung der Leistungspflicht für die Behandlung von Opfern aus den Bombennächten oder um Überlebende von Vergewaltigungen geht. In jüngster Zeit mehren sich jedoch Arbeiten zu Kriegstraumatisierungen in Deutschland (Bode 2004; Kuwert et al. 2007a, b, 2008; Kuwert und Freyberger 2007a, b; Maercker et al. 1999).
Studien zur Funktion der angesprochenen Richtlinienpsychotherapie, etwa unter der Frage, ob es sich hier auch - mit der Forderung nach dem Nachweis eines unbewussten Konflikts - um ein kollektives Abwehrgeschehen gegen das Gewahrwerden von (Kriegs-)Traumatisierungen handeln könne, scheinen zu fehlen. Aufmerksamkeit fanden allerdings, wenngleich in Deutschland auch mit Verzögerung, die Holocaustüberlebenden. In Deutschland wurden auch deren psychische Auffälligkeiten, sogar nach mehreren Jahren im KZ, zunächst als Ausdruck einer schon vor der Folter bestandenen Störung betrachtet.
Auf der Grundlage der Arbeiten von Bonhoeffer (insb. 1926) galt in Deutschland seit einer frühen Grundsatzentscheidung des Reichsversicherungsamtes, dass eine traumatische Neurose keine Rentenansprüche begründe, und zwar deshalb nicht, weil der menschliche Organismus nach psychischen Belastungen unbegrenzt ausgleichsfähig sei. Freyberger und Freyberger (2007 b) machen allerdings darauf aufmerksam, dass Bonhoeffer unter dem Eindruck der Geschehnisse in den Konzentrationslagern diese seine Meinung 1947 revidiert habe (Freyberger und Freyberger 2007b, S. 381). Bis etwa 1991 wurde diese Auffassung in Begutachtungen von Holocaustüberlebenden zugrunde gelegt (Freyberger und Freyberger 2007a). Kurt Eissler, ein sehr konservativer, 1938 in die USA emigrierter Psychoanalytiker aus Wien, fragte auf diesem Hintergrund im Jahre 1963 in einem Aufsatztitel: »Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« (Eissler 1963).
Ulrich Venzlaff gehört zu den ersten Autoren in Deutschland, die die herrschende Lehre infrage stellten. Im Jahre 1958 stellte er sein Konzept des erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels vor und sprach sich für eine Bejahung der Entschädigungspflicht aus (Venzlaff 1958; Wagner und Seidler 2008). Von Baeyer et al. (1964) führten in ihrem Buch Begriffe ein wie etwa den der »chronischen traumatischen Depression« und zeigten, dass extreme Gewalterfahrungen auch noch viele Jahre nach der Exposition zu schweren Krankheitsbildern führen können (Seidler und Wagner 2007).
Anfang der 1960er Jahre fanden mehrere Tagungen in den USA statt, auf denen Befunde zu den Folgen von Gewalt bei Überlebenden unterschiedlicher Katastrophen vorgestellt wurden (Venzlaff et al. 2004). Es wurde deutlich, dass sich die Symptombilder der Betroffenen unabhängig von der Art der Gewalteinwirkung sehr glichen. Hier wurden auch Befunde zu amerikanischen Veteranen des Koreakriegs gewürdigt. Als weiterer Krieg hat später der Vietnamkrieg mit seinen Folgen der Psychotraumatologie zu einem Durchbruch verholfen. Die Gewaltfolgen leugnende Vorstellung, nur Menschen mit vorher bestehenden Schädigungen seien anfällig für Gewaltfolgestörungen, ließ sich nun definitiv nicht mehr halten. Vorher gesunde junge Männer kehrten psychisch krank aus dem Vietnamkrieg zurück - viele leiden noch immer an den Folgen (Dohrenwend et al. 2006; Figley 2006b). Bekannt ist für die amerikanische Seite, dass knapp 60 000 Soldaten gefallen sind. 20 Jahre nach ihren Kriegserfahrungen litten 35,8% der Kriegsteilnehmer am Vollbild einer Postraumatischen Belastungsstörung, 70% wiesen zumindest eines der Hauptsymptome auf (Shay 1995).
Es sind allerdings drei Linien - außer den technischen Katastrophen und den Kriegen mit ihren Folgen -, die zur Anerkennung der Realität führten, dass Gewalt zu seelischen Krankheiten führt: »Erst die Frauenbewegung der siebziger Jahre förderte die Erkenntnis zutage, dass nicht Männer im Krieg, sondern Frauen im zivilen Leben am stärksten von posttraumatischen Störungen betroffen sind« (Herman 1992b, S. 45). Ging es zunächst darum, die Realität von Vergewaltigung überhaupt zu thematisieren und die Folgen aufzuzeigen (Brownmiller 1975), so rückte die Beschäftigung mit diesem Thema zunehmend auch Gewalt gegen Frauen in nahen Beziehungen in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand zu definieren heißt immerhin, auch und sogar verheirateten Frauen ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen - eine relativ junge Auffassung, die weltweit längst nicht überall durchgesetzt ist! Vergewaltigung lediglich durch Familienfremde unter Strafe zu stellen kann immerhin den Gedanken aufkommen lassen, dass das Vergehen eher in der Aneignung fremden Besitzes - etwa dem des Vaters oder dem des Ehemanns - besteht als in der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts einer eigenständigen Rechtsperson.
Auch der sexuelle Missbrauch von Kindern wurde erst etwa ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wissenschaftlich bearbeitet. Shengold etwa (1975) führte dasWort vom »Seelenmord« für Vernachlässigung in der Kindheit in die Literatur ein, und Herman's Bücher (1981, 1992b) über die Folgen von sexualisierter Gewalt wurden sehr einflussreich.
Die oben bereits angesprochenen Gemeinsamkeiten in der Symptomatik von Gewaltopfern wurden immer wieder bestätigt. Auf diesem Hintergrund legte zunächst Horowitz (1978) Studien vor zu basalen kognitiven Prozessen der Verarbeitung von traumatischem Stress und machte den Vorschlag zur Konzeptualisierung eines spezifischen posttraumatischen Symptommusters, das aus Intrusions- und Vermeidungssymptomen sowie subjektiven Schuldgefühlen zusammengesetzt war. Dieser Vorschlag führte dann in veränderter Form zur Aufnahme der PTSD in das DSM-III (American Psychiatric Association 1980a).
Das DSM-III folgt der Maxime eines möglichst theoriefreien, deskriptiven Ansatzes (American Psychiatric Association, 1980b, S. XVII). Damit fielen teils durchaus mystifizierende Begriffe und Konstrukte wie etwa »Psychose« und »Neurose« weitgehend weg (ebd. S. XI). Bemerkenswert ist aber, dass die beiden Krankheitsbilder »Posttraumatische Belastungsreaktion, akut« (308.30) und »Posttraumatische Belastungsreaktion, chronisch oder verzögert« (309.81) als eindeutig ätiologisch definierte Störungsbilder aufgenommen wurden! »Ätiologie« ist aber »Theorie«! Bei beiden Störungsbildern war den Autoren der Zusammenhang von (Krankheits-)Ursache und Folgestörung so eindeutig, dass er in die Krankheitsdefinition aufgenommen wurde. Seltsam ist lediglich, dass die beiden Krankheitsbilder in der englischen Originalfassung als »disorder« beschrieben werden, wohingegen die deutsche Fassung von »Reaktion« spricht.
© 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart
Das, was wir heute »Traumafolgestörungen« nennen, dürfte es schon immer gegeben haben. Naturkatastrophen, große Hungersnöte und gewaltige Epidemien, Kriege, das, was wir heute »Arbeitsunfälle« nennen, Macht, die noch unverhüllter als gegenwärtig mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt wurde, und Gewalt gegen Frauen und Kinder dürften allgegenwärtig gewesen sein. Eindrucksvoll ist der Versuch von Shay (1995), das Schicksal amerikanischer Vietnam-Veteranen auf dem Hintergrund des klassischen Stoffs der Ilias zu lesen und umgekehrt die Situation und das Erleben von deren Protagonisten Achill in Konzepten heutiger psychotraumatologischer Krankheitslehre zu beschreiben. Biologische Reaktionen auf Todesangst dürften weitgehend kulturinvariant ablaufen.
Die Geschichtsschreibung der Psychotraumatologie allerdings reicht nicht viel weiter zurück als bis in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts (Fischer- Homberger 1975; Micale und Lerner 2001). Die Zeit davor ist medizinhistorisch unter einer Traumaperspektive kaum untersucht. Seidler und Eckart (2005 a) gehen einen anderen Weg in ihrem Versuch, Grundlagen einer historischen Traumaforschung zu legen, indem sie fragen, welche Auswirkungen Gewalterfahrungen auf verschiedene Systeme und Orientierungen in einer Gesellschaft haben. Diese Fragestellung ist aber zu unterscheiden von dem Versuch, die Geschichte einer bestimmten Disziplin - hier: die der Psychotraumatologie - zu schreiben. Die historische Traumaforschung ist vielmehr ein neuer Ansatz innerhalb der Psychotraumatologie, der überpersönliche Auswirkungen von individuellen Gewalterfahrungen vieler Menschen auf kulturelle Phänomene untersucht.
Die Beschreibung der für die heutige Psychotraumatologie relevanten Krankheitsbilder beginnt im 19. Jahrhundert. Diese Zeit ist durch eine rasante Industrialisierung gekennzeichnet, aber auch durch Urbanisierung mit den Megametropolen London und Paris und durch eine neuartige, scheinbar alles umfassende Nachrichtentechnik (Eckart 1997), die auch Informationen über große Unfälle schnell in alle Welt trägt. Für viele Menschen wurde ein Bruch in einer vormals als intakt wahrgenommenen Welt spürbar. Die Welt war nicht mehr bergend - oder, wohl richtiger, eine entsprechende Illusion ließ sich nicht mehr aufrecht halten, und Menschen waren nicht das, was sie zu sein schienen. Entsprechend ist eines der Hauptthemen dieser Zeit das des Doppelgängers (Böschenstein 1987; Hoffmann 1815/1816; Stevenson 1886b). Gegen Ende jenes Jahrhunderts entstanden in dem Bereich des Wissens, der heute »psychologische Medizin« heißt, die auch heute noch relevanten großen Krankheitslehren der psychosozialen Medizin. Janet (1889) entwarf seine Dissoziationslehre, Freud (1896 c) seine Arbeiten zur Hysterie, Kraepelin (1883) publizierte seinen ersten Entwurf eines Systems zur Klassifizierung seelischer Störungen und Oppenheim (1889) sein Buch »Die traumatischen Neurosen«, wobei er diesen Begriff bereits ein Jahr zuvor eingeführt hatte (Oppenheim 1888).
Ein Kristallisationspunkt für Ängste vor technischen Neuerungen war die neu aufgekommene Eisenbahn. Wie auch die medizinische Welt auf diese Veränderungen reagierte, beschreibt Schivelbusch (1977). Zur Kennzeichnung der Krankheitssymptomatik von Menschen, die bei einem Eisenbahnunfall zu Schaden gekommen waren, tauchte Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff des »railwayspine « auf. Erstmals schriftlich scheint das Wort bei Erichsen (1866) vorzukommen, aber sein Gebrauch dieses Wortes lässt vermuten, dass der Begriff bereits benutzt wurde. Erichsen hält die Erkrankung für den Ausdruck einer chronischen Myelitis (darum »spine«), spricht aber auch - in sehr vorsichtiger Annäherung - der direkten psychischen Einwirkung ihre ursächliche Beteiligung an den körperlichen Symptomen nicht ganz ab. Diese Linie wird besonders sichtbar in seinem zweiten Buch zum Thema (Erichsen 1875), das eine Erweiterung und Überarbeitung des ersten darstellt. Obwohl er auch hier in erster Linie »molecular changes« im Rückenmark als Ursache vermutet und in zweiter Linie Entzündungsvorgänge (S. 15), kann er sich auch eine Situation von »mental or moral unconsciousness« vorstellen, hervorgerufen durch das Entsetzen des Unfalles, die zu einem Zusammenbruch der Kontrollfunktionen des Gehirnes führe (S. 195).
Einige der nachfolgenden Autoren haben dann immer stärker eine direkte Psychogenese der Symptomatik vertreten. Das gilt insbesondere für Page (1883), der als Kritiker der organ-genetisch orientierten Ansichten von Erichsen auftrat. Er betonte die Wirkung von Angst und Schreck und führte in seinem zweiten Buch (1891) den Begriff des »general nervous shock« (S. 62) ein, der als »Schreckneurose « von Kraepelin (1883) weiter tradiert wurde: »The thing essential for suggestion to have any influence is the special psychic state, induced immediately by nervous shock« (S. 69). Allerdings wurde die Position von Page dann vermehrt von den Eisenbahngesellschaften dazu herangezogen, Schadenersatzansprüche Geschädigter abzuwehren mit dem Argument, es lägen keine auf einen bestimmten Unfall zurückzuführenden körperlichen Schädigungen vor - im Übrigen eindeutig gegen seine Intention. Von der Systematik her rückt Page die - heute so genannten - posttraumatischen Störungen in die Nähe dessen, was (sc.: damals) als »Hysterie« bezeichnet wurde, insbesondere wegen des gemeinsamen Merkmals des Kontrollverlusts (Page 1891, S. 52- 53). Harrington (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Erstbeschreiber der Railway-Krankheiten Chirurgen waren. Auch nennt er Zahlen über die Häufigkeit von Eisenbahnunfällen in der damaligen Zeit. Danach waren es weniger die absoluten Zahlen der Todesfälle als vielmehr das mit ihnen verbundene öffentliche Interesse an der als überwältigend erlebten technischen Neuerung der Eisenbahn, das hier die Fachwelt und die Öffentlichkeit von einem neuen Krankheitsbild sprechen ließ, und zwar auch im Dienste der Warnung vor diesen technischen Neuerungen. Schon hier, in der Zeit der Genese erster Konzepte traumatogener Krankheitsbilder, beginnt die Funktionalisierung psychisch traumatisierter Menschen: Sie wurden offenbar von Anbeginn an ge- bzw. benutzt, um dieses oder jenes im Dienste ganz anderer Interessen zu beweisen oder zu widerlegen. Diese Art von Funktionalisierung dauert bis heute an und beraubt die Betroffenen jeweils erneut ihrer eigenen Subjektivität. Ein Grund für die den Eisenbahnunfällen damals zukommende Aufmerksamkeit war offenbar auch darin zu suchen, dass deutlich wurde, dass es lediglich von äußeren Zufälligkeiten abhing, ob jemand verletzt wurde bzw. zu Tode kam oder unversehrt den Ort des Geschehens verließ.
In Deutschland wurde der Neurologe Hermann Oppenheim (1858 - 1919) für die frühe Psychotraumatologie bedeutsam. Er löst sich aus der einengenden Fokussierung auf Überlebende von Eisenbahnunfällen und bezieht Betroffene von Arbeitsunfällen mit ein - auch auf dem Hintergrund, dass 1884 in Deutschland eine gesetzliche Unfallversicherung wirksam geworden war und Nervenärzte jetzt Unfallfolgen zu begutachten hatten. Im Vorwort zu seinem Buch »Die traumatischen Neurosen« (1889) nennt Oppenheim seine Absicht, »eine zusammenfassende Darstellung jener durch Verletzungen hervorgerufenen Erkrankungen des Nervensystems zu liefern, die nicht durch eine direkte Beschädigung der nervösen Centralorgane oder des peripherischen Nervenapparates, sondern auf dem Wege der Erschütterung im allgemeinsten Sinne des Wortes entstanden sind« (S. V). In seinem Theorieteil heißt es dann: »Die Hauptrolle spielt das psychische: der Schreck, die Gemüthserschütterung« (S. 123, Hervorhebung im Original). »Die im Momente des Unfalls eintretende schreckhafte Aufregung ist meistens so bedeutsam, daß sie eine dauernde psychische Alteration bedingt« (S. 124). Insgesamt führen ihn seine Beobachtungen zu der Auffassung, dass posttraumatische Symptome eine eigene Krankheitskategorie darstellen, für die er die Bezeichnung »traumatische Neurose« vorschlägt.
Die Reichsversicherungskammer sah auch die traumatischen Neurosen als erstattungspflichtig an (Fischer-Homberger 1987). Eine Leistungspflicht wurde häufig auf der Grundlage des Ansatzes von Oppenheim begründet. Deshalb wurde dieser Autor für diese zahlenmäßig zwar geringen, trotzdem aber von vielen als ungerechtfertigt angesehenen Rentenansprüche verantwortlich gemacht. Wortführer war der Psychiater Hoche (1935) mit dem Argument, die Entschädigungsmöglichkeit habe ein pathologisches Rentenbegehren induziert - auch heute noch taucht es gelegentlich in klinischen Konferenzen und Gutachten auf, sicherlich häufiger als angemessen. Damals wie heute gilt, dass Traumatisierte in der Regel in erster Linie als solche wahrgenommen werden wollen und eher selten an Geld und damit an einer Festlegung auf eine Opferrolle interessiert sind (Maercker und Müller 2004). Es begann eine sehr scharf geführte Diffamierungskampagne gegen Oppenheim (Lerner 1997, 2001). Eine Marginalisierung von Forscherinnen und Forschern sowie Therapeutinnen und Therapeuten, die sich mit Traumatisierten beschäftigen, durchzieht allerdings die gesamte Geschichte (Herman 1992b, S. 19).
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Psychoanalyse. Ihr Interesse galt von Anfang an zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen mit ihren Auswirkungen und Konsequenzen, historisch damals sehr bald eingeengt auf deren motivationale, intrapsychische, unbewusste Seite im Individuum, weniger den Auswirkungen und Belastungen durch eine immer technisierter werdende Welt mit ihren Problemen und Unfällen. Im häufig zitierten Text »Zur Ätiologie der Hysterie« stellte Freud (1896 c) ». . . die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich . . . ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören« (S. 439, Hervorhebung im Original). Freud zweifelt nicht nur nicht (!) an der Glaubhaftigkeit der Berichte seiner Patientinnen, sondern geht sogar davon aus, dass diese Bedingung der Hysterie viel häufiger erfüllt sei, als es das Vorliegen des Krankheitsbilds vermuten lasse (S. 448). Später nimmt er von dieser Meinung Abstand. In einem Zusatz schreibt er nämlich knapp 30 Jahre später: »All dies ist richtig, aber es ist zu bedenken, daß ich mich damals von der Überschätzung der Realität und der Geringschätzung der Phantasie noch nicht frei gemacht hatte« (1896 c, S. 440). Die Diskussion darüber, ob Freud die sog. Verführungshypothese vollständig oder nur teilweise oder aber gar nicht verworfen habe, ist nicht abgeschlossen (Grubrich- Simitis 1998; Israels und Schatzman 1993; Masson 1984; May-Tolzmann 1996). Hilfreicher als derartige Diskussionbeiträge wären Untersuchungen, auf welchem gesellschaftlichen Hintergrund Freud welchen Repressalien wirklich ausgesetzt war, solange er an der traumatischen Genese der Hysterie eindeutig festgehalten hatte, könnte so eine Studie doch zum Verständnis aktueller Verwerfungsimpulse der Psychotraumatologie gegenüber heute beitragen.
Unklar ist, wer das Wort »Verführungshypothese« zur Bezeichnung für sexuellen Missbrauch eingeführt hat; von Freud stammt es nicht. Natürlich ist damit gemeint, dass das Kind den Erwachsenen verführt.
Im Ersten Weltkrieg haben nach vorsichtigen Schätzungen (Ruggenberg 2010) allein auf deutscher Seite mindestens 600 000 Soldaten das erlitten, was wir heute als Traumafolgestörung bezeichnen. Umgangssprachlich wurden die Betroffenen im deutschen Sprachraum Kriegszitterer oder Schüttler bezeichnet. Wissenschaftliche Bezeichnungen lauteten auf Kriegsneurose, traumatische Neurose, Zweckoder Schreckneurose, Shell-Schock oder, im Englischen, als »shell shock«, »war strain«, »gas neurosis«, »buried alive neurosis«, »soldier's heart«, »war neurasthenia « oder »anxiety neurosis« (Myers 1940; Lerner und Micale 2001, S. 17). Die genannte Zahl umfasst aber nur die, die mit derartigen Diagnosen registriert worden waren, also einen kleinen Bruchteil. Britische Schätzungen besagen, dass 7- 10% ihrer Offiziere und 3- 4% anderer Ränge von derartigen Störungen betroffen waren. Allerdings war den britischen Armeeärzten im Laufe des Krieges verboten worden, die Diagnose »shell shock« bei Zugehörigen unterer Ränge zu stellen. Ab Juni 1917 durfte die Diagnose überhaupt nicht mehr vergeben werden, an deren Stelle trat die Bemerkung: »NYD(N)«, kurz für »Not Yet Diagnosed (?Nervousness)« (Ruggenberg 2010).
Die Wirkung von Gewalt auf alle Menschen war also bekannt, und eine »Gewaltfolgenlehre« - die Psychotraumatologie - hätte sich durchaus in jener Zeit etablieren können, wie auch schon 50 Jahre zuvor. Aber die »Erforschung psychischer Traumata« zeigte immer wieder »Phasen der Amnesie«: »Bei der Erforschung psychischer Traumata stieß man wiederholt in Bereiche des Undenkbaren vor und kam zu grundlegenden Glaubensfragen« (Herman 1992b, S. 17). Auch heute noch gilt: Je entsetzlicher eine Gewalttat, umso stärker die Skepsis gegenüber ihrer Realität. So galt in der Zeit des Ersten Weltkrieges auch die sozialdarwinistische Auffassung, nach der die Starken im Kampfe gefallen seien und nur die - natürlich vorher schon - Schwachen überlebt hätten. Max Nonne (1861 - 1959) schrieb: »Die besten werden geopfert, die körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge werden sorgfältig konserviert, anstatt daß bei dieser günstigen Gelegenheit eine gründliche Katharsis stattgefunden hätte, die zudem durch den Glorienschein des Heldentodes die an der Volkskraft zehrenden Parasiten verklärt hätte« (Nonne 1922, S. 112).
Die Wirkung von Gewalt wurde damit einer schon vorher bestehenden Schwäche attribuiert. Bonhoeffer (1868 - 1948) meinte dazu, dass sich »fast ausnahmslos « habe feststellen lassen, dass es sich bei Soldaten mit solchen Erscheinungsbildern »um Individuen handelte, die schon früher konstitutionell psychopathische Erscheinungen dargeboten hatten« (Bonhoeffer 1914, S. 1777). Auch Simulation wurde geltend gemacht und entsprechend waren die Therapiemaßnahmen. Mit elektrischen Stromstößen als Überrumplungsmaßnahme, stundenlangen Anwendungen schmerzhaftester elektrischer Sinusströme - die »Kaufmann-Kur« -, Röntgenbestrahlungen in Dunkelkammern, wochenlangen Isolationsfoltern, der Provokation von Erstickungstodesangst durch Kehlkopfsonden oder -kugeln, herzlos inszenierten Scheinoperationen in Äthernarkose und vielem anderen mehr wurde versucht, der Traumafolgestörungen, die als Ausdruck von Simulation und Willensschwäche angesehen wurden, Herr zu werden. Eine kurze Beschreibung dieser Methoden gibt Eckart (2005), ausführlichere Darstellungen sind bei Riedesser und Verderber (1996) zu finden. Die »Behandlung« sollte entsetzlicher sein als der Fronteinsatz und die Betroffenen sollten deshalb in den Krieg zurückkehren wollen. Kritisch hat sich allerdings der bereits erwähnte Psychiater Nonne (1917) gegen derartige Behandlungsformen ausgesprochen, zugunsten der von ihm propagierten Hypnosebehandlung.
Insbesondere der amerikanische Psychiater Abram Kardiner (1891 - 1981, Lehranalysand von Freud) stand außerhalb des Mainstreams. Im Jahre 1941 hat er seine Erfahrungen aus den Nachkriegsbehandlungen von Soldaten des Ersten Weltkrieges veröffentlicht, und 1947 ist dasselbe Buch in völliger Überarbeitung, unter Berücksichtigung der Erfahrungen des Ko-Autors Spiegel aus dem Zweiten Weltkrieg erneut erschienen. Das, was dann später als PTSD bezeichnet wurde, nannte Kardiner eine »physioneurosis« (1941, S. 195). 50 Jahre später sollten seine klinischen Einschätzungen durch neurobiologische und hormonelle Forschungsbefunde gestützt werden. Pet Barker (1991, 1993, 1995) hat in ihren Romanen versucht, das Grauen des Ersten Weltkrieges wiederzugeben. Die Bücher geben auch einen Einblick in die Realität der damaligen Psychotraumatherapie.
Auch die moderne Zivilbevölkerung ist seit den beiden Weltkriegen - zuvor in der Antike über das Mittelalter bis zur Zeit der Kabinettskriege - in großem Ausmaße Traumatisierungen ausgesetzt (van Creveld 1991; Schivelbusch 1977). Allerdings wurde der Frage nach Traumafolgestörungen in der Bevölkerung weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg nachgegangen. Dies hätte durchaus auch ohne die heute aktuelle Begrifflichkeit geleistet werden können. In Deutschland fand allerdings Mitscherlich (1963, 1967) große Beachtung mit seinen sozialpsychologischen Studien zur damaligen Situation.
Schepank (1987) hat die im internationalen Vergleich enorm große Anzahl von Psychotherapiebetten in der (alten) Bundesrepublik Deutschland beschrieben, und auch dem Ausbau der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung der BRD wurde im Nachkriegsdeutschland große Beachtung geschenkt. Es kann vermutet werden, dass sich kriegsbedingte seelische Traumatisierungen unter anderen Diagnosen, wie etwa Neurasthenie oder Depression, versteckten, dass aber der Zusammenhang zu Kriegsereignissen nicht wahrgenommen wurde. So wurden 1967 in Deutschland die Psychotherapierichtlinien in Kraft gesetzt (Faber et al. 1999, S. 1; Rüger et al. 2005, S. 1), die die Leistungspflicht der Krankenkasse für die psychotherapeutische Behandlung seelischer Krankheiten verbindlich definierten. Allerdings galt von Anbeginn an die Forderung, dass für eine anzuerkennende Leistungspflicht psychoanalytische bzw. später auch verhaltensanalytische Genesekriterien der zur Diskussion stehenden Krankheitsbilder erfüllt sein mussten. »Äußere Belastungsfaktoren, seien sie auch in der allgemeinen Erfahrung von großem Gewicht, machen den Patienten nicht ohne weiteres seelisch krank« (Faber et al. 1999, S. 15). Damit wurde die Aufmerksamkeit - für den Bereich der psychodynamischen Therapieverfahren - auf die Suche nach einem unbewussten seelischen Konflikt gelenkt, was skurril ist, wenn es um die Anerkennung der Leistungspflicht für die Behandlung von Opfern aus den Bombennächten oder um Überlebende von Vergewaltigungen geht. In jüngster Zeit mehren sich jedoch Arbeiten zu Kriegstraumatisierungen in Deutschland (Bode 2004; Kuwert et al. 2007a, b, 2008; Kuwert und Freyberger 2007a, b; Maercker et al. 1999).
Studien zur Funktion der angesprochenen Richtlinienpsychotherapie, etwa unter der Frage, ob es sich hier auch - mit der Forderung nach dem Nachweis eines unbewussten Konflikts - um ein kollektives Abwehrgeschehen gegen das Gewahrwerden von (Kriegs-)Traumatisierungen handeln könne, scheinen zu fehlen. Aufmerksamkeit fanden allerdings, wenngleich in Deutschland auch mit Verzögerung, die Holocaustüberlebenden. In Deutschland wurden auch deren psychische Auffälligkeiten, sogar nach mehreren Jahren im KZ, zunächst als Ausdruck einer schon vor der Folter bestandenen Störung betrachtet.
Auf der Grundlage der Arbeiten von Bonhoeffer (insb. 1926) galt in Deutschland seit einer frühen Grundsatzentscheidung des Reichsversicherungsamtes, dass eine traumatische Neurose keine Rentenansprüche begründe, und zwar deshalb nicht, weil der menschliche Organismus nach psychischen Belastungen unbegrenzt ausgleichsfähig sei. Freyberger und Freyberger (2007 b) machen allerdings darauf aufmerksam, dass Bonhoeffer unter dem Eindruck der Geschehnisse in den Konzentrationslagern diese seine Meinung 1947 revidiert habe (Freyberger und Freyberger 2007b, S. 381). Bis etwa 1991 wurde diese Auffassung in Begutachtungen von Holocaustüberlebenden zugrunde gelegt (Freyberger und Freyberger 2007a). Kurt Eissler, ein sehr konservativer, 1938 in die USA emigrierter Psychoanalytiker aus Wien, fragte auf diesem Hintergrund im Jahre 1963 in einem Aufsatztitel: »Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« (Eissler 1963).
Ulrich Venzlaff gehört zu den ersten Autoren in Deutschland, die die herrschende Lehre infrage stellten. Im Jahre 1958 stellte er sein Konzept des erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels vor und sprach sich für eine Bejahung der Entschädigungspflicht aus (Venzlaff 1958; Wagner und Seidler 2008). Von Baeyer et al. (1964) führten in ihrem Buch Begriffe ein wie etwa den der »chronischen traumatischen Depression« und zeigten, dass extreme Gewalterfahrungen auch noch viele Jahre nach der Exposition zu schweren Krankheitsbildern führen können (Seidler und Wagner 2007).
Anfang der 1960er Jahre fanden mehrere Tagungen in den USA statt, auf denen Befunde zu den Folgen von Gewalt bei Überlebenden unterschiedlicher Katastrophen vorgestellt wurden (Venzlaff et al. 2004). Es wurde deutlich, dass sich die Symptombilder der Betroffenen unabhängig von der Art der Gewalteinwirkung sehr glichen. Hier wurden auch Befunde zu amerikanischen Veteranen des Koreakriegs gewürdigt. Als weiterer Krieg hat später der Vietnamkrieg mit seinen Folgen der Psychotraumatologie zu einem Durchbruch verholfen. Die Gewaltfolgen leugnende Vorstellung, nur Menschen mit vorher bestehenden Schädigungen seien anfällig für Gewaltfolgestörungen, ließ sich nun definitiv nicht mehr halten. Vorher gesunde junge Männer kehrten psychisch krank aus dem Vietnamkrieg zurück - viele leiden noch immer an den Folgen (Dohrenwend et al. 2006; Figley 2006b). Bekannt ist für die amerikanische Seite, dass knapp 60 000 Soldaten gefallen sind. 20 Jahre nach ihren Kriegserfahrungen litten 35,8% der Kriegsteilnehmer am Vollbild einer Postraumatischen Belastungsstörung, 70% wiesen zumindest eines der Hauptsymptome auf (Shay 1995).
Es sind allerdings drei Linien - außer den technischen Katastrophen und den Kriegen mit ihren Folgen -, die zur Anerkennung der Realität führten, dass Gewalt zu seelischen Krankheiten führt: »Erst die Frauenbewegung der siebziger Jahre förderte die Erkenntnis zutage, dass nicht Männer im Krieg, sondern Frauen im zivilen Leben am stärksten von posttraumatischen Störungen betroffen sind« (Herman 1992b, S. 45). Ging es zunächst darum, die Realität von Vergewaltigung überhaupt zu thematisieren und die Folgen aufzuzeigen (Brownmiller 1975), so rückte die Beschäftigung mit diesem Thema zunehmend auch Gewalt gegen Frauen in nahen Beziehungen in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand zu definieren heißt immerhin, auch und sogar verheirateten Frauen ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen - eine relativ junge Auffassung, die weltweit längst nicht überall durchgesetzt ist! Vergewaltigung lediglich durch Familienfremde unter Strafe zu stellen kann immerhin den Gedanken aufkommen lassen, dass das Vergehen eher in der Aneignung fremden Besitzes - etwa dem des Vaters oder dem des Ehemanns - besteht als in der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts einer eigenständigen Rechtsperson.
Auch der sexuelle Missbrauch von Kindern wurde erst etwa ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wissenschaftlich bearbeitet. Shengold etwa (1975) führte dasWort vom »Seelenmord« für Vernachlässigung in der Kindheit in die Literatur ein, und Herman's Bücher (1981, 1992b) über die Folgen von sexualisierter Gewalt wurden sehr einflussreich.
Die oben bereits angesprochenen Gemeinsamkeiten in der Symptomatik von Gewaltopfern wurden immer wieder bestätigt. Auf diesem Hintergrund legte zunächst Horowitz (1978) Studien vor zu basalen kognitiven Prozessen der Verarbeitung von traumatischem Stress und machte den Vorschlag zur Konzeptualisierung eines spezifischen posttraumatischen Symptommusters, das aus Intrusions- und Vermeidungssymptomen sowie subjektiven Schuldgefühlen zusammengesetzt war. Dieser Vorschlag führte dann in veränderter Form zur Aufnahme der PTSD in das DSM-III (American Psychiatric Association 1980a).
Das DSM-III folgt der Maxime eines möglichst theoriefreien, deskriptiven Ansatzes (American Psychiatric Association, 1980b, S. XVII). Damit fielen teils durchaus mystifizierende Begriffe und Konstrukte wie etwa »Psychose« und »Neurose« weitgehend weg (ebd. S. XI). Bemerkenswert ist aber, dass die beiden Krankheitsbilder »Posttraumatische Belastungsreaktion, akut« (308.30) und »Posttraumatische Belastungsreaktion, chronisch oder verzögert« (309.81) als eindeutig ätiologisch definierte Störungsbilder aufgenommen wurden! »Ätiologie« ist aber »Theorie«! Bei beiden Störungsbildern war den Autoren der Zusammenhang von (Krankheits-)Ursache und Folgestörung so eindeutig, dass er in die Krankheitsdefinition aufgenommen wurde. Seltsam ist lediglich, dass die beiden Krankheitsbilder in der englischen Originalfassung als »disorder« beschrieben werden, wohingegen die deutsche Fassung von »Reaktion« spricht.
© 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart
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Autoren-Porträt von Günter H. Seidler
Prof. Dr. Günter H. Seidler ist Nervenarzt, Psychoanalytiker, ärztlicher Psychotherapeut und Psychotraumatologe. Er leitet in Heidelberg am Zentrum für Psychosoziale Medizin in der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik die Sektion Psychotraumatologie mit einer großen Traumaambulanz.
Bibliographische Angaben
- Autor: Günter H. Seidler
- 2012, 286 Seiten, Maße: 15,7 x 23,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Kohlhammer
- ISBN-10: 3170217119
- ISBN-13: 9783170217119
- Erscheinungsdatum: 21.11.2012
Rezension zu „Psychotraumatologie “
"Das Lehrbuch gibt einen umfassenden Überblick über das Feld der Psychotraumatologie. Von dem unabdingbarem Blick in die Geschichte über die zentralen Themenfelder der Psychotraumatologie bis zu den innovativen Behandlungsangeboten wie der EMDR-Methode oder der Internet-Therapie wird alles Wichtige kompetent und in angemessenere Tiefe abgehandelt. Dabei wird stets deutlich, dass der Autor Seidler nicht nur ein exzellenter Forscher und Kenner der Materie ist, sondern auch aus seiner umfangreichen therapeutischen Erfahrung schöpft. In der bereichernden Reflexion der Bedeutung von Scham in Bezug auf das Trauma lässt er seine frühere Erfahrung einfließen und ergänzt hier wichtige Aspekte.Es gelingt Günter H. Seidler eine theoretisch fundierte, empirisch begründete und gleichzeitig praxisnahe Einführung in die Psychotraumatologie vorzulegen. Dabei bleibt er immer auf Höhe des Lesers und somit gut lesbar. Dies Lehrbuch bietet dem Anfänger Orientierung und dem Erfahrenen die Möglichkeit zur Vertiefung seines Wissens. Die Schwerpunktsetzung auf Störungsbilder folgt dem Interesse des Praktikers. Seidler verweist auf die Grenzen seines Buches und zeigt dem Interessierten weitere Themen auf. Die Beschränkung auf Wesentliches bedeutet keinen Verlust, sondern einen Gewinn an Lesbarkeit und angemessener Preisgestaltung. Das Lehrbuch Psychotraumatologie ist ein unentbehrliches Kompendium für Praktiker und Forscher, Anfänger wie Erfahrene. Es sollte seinen Platz im Bücherregal des psychotraumatologisch interessierten finden."(Quelle: Dr. Michael Hase, EMDRIA-Rundbrief, Februar 2013)"... eine explizit praxisorientierte Einführung in die Psychotraumatologie ... Hier spricht nicht der akademische Forscher zum Thema ?Trauma?, sondern der Praktiker, der eine therapeutische Grundhaltung vermittelt, die Grenzen des eigenen Handelns reflektiert und offen ist, für die Breite der Anwendungsmethoden, die sich heute in der Traumatherapie bewährt haben. ? Ich wünsche diesem spannenden Buch
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viele neugierige Leser mit einem Interesse an Psychotraumatologie, als einer modernen Form der Psychotherapie." (Quelle: Jochen Peichl, 22.02.2013, amazon.de)
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Kommentar zu "Psychotraumatologie"
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