Die Rache des Chamäleons / Ullstein eBooks (ePub)
Thriller
Dein Mann liebt dich. Eure Kinder. Er ist erfolgreich, und ihr habt ein schönes Leben. Doch eine Nachricht verändert alles. Ein alter Freund glaubt, dass dein Mann ihm noch etwas schuldet. Und das fordert er jetzt ein. Weil du ihn liebst, gehst du mit ihm...
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Produktinformationen zu „Die Rache des Chamäleons / Ullstein eBooks (ePub)“
Dein Mann liebt dich. Eure Kinder. Er ist erfolgreich, und ihr habt ein schönes Leben. Doch eine Nachricht verändert alles. Ein alter Freund glaubt, dass dein Mann ihm noch etwas schuldet. Und das fordert er jetzt ein. Weil du ihn liebst, gehst du mit ihm auf diese tödliche Mission. Doch wer ist der Mann an deiner Seite?
Der neue Thriller von Åke Edwardson führt einen scheinbar unbescholtenen Mann zurück nach Andalusien in seine terroristische Vergangenheit.
Der neue Thriller von Åke Edwardson führt einen scheinbar unbescholtenen Mann zurück nach Andalusien in seine terroristische Vergangenheit.
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DIE RACHE DES CHAMÄLEONS von Åke Edwardson1
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Der Hund bellt, erst hat er nur geknurrt, doch das hat im Haus niemand gehört. Jetzt bellt er, denn er hört, dass jemand vor der Tür ist. Der Hund weiß, dass draußen etwas Gefährliches ist. Er wird es aufhalten, deswegen steht er hier. Er ist nicht groß, aber er kann bellen. Seine Augen funkeln im Licht der Straßenbeleuchtung, die durch das Türglas fällt. Wieder eine Bewegung. Wieder bellt der Hund.
Die Deckenbeleuchtung in der Diele flammt auf.
»Laika? Laika! Was ist denn, mein Mädchen?«
Laika schaut sich um. Dann wendet sie sich erneut der Tür zu und bellt weiter.
Eine Frau im Bademantel kommt die Treppe zur Diele herunter. Sie ist blond und blinzelt verschlafen in das Licht.
»Hat dich der Zeitungsbote mal wieder aufgeschreckt?«
Die Frau beugt sich zu dem Hund hinunter und streicht ihm über Schnauze und Hals. Jetzt hat er aufgehört zu bellen. Er knurrt nur noch, aber es klingt nicht mehr drohend, als gäbe es draußen nichts Gefährliches mehr, keinen gefährlichen Zeitungsboten.
»Ist schon gut, meine Alte, schon gut. Du weckst noch das ganze Haus. Was sollen denn die Mädchen denken, wenn du so einen Krach machst?«
Die Frau richtet sich auf. Sie öffnet die Haustür und tritt auf eine kleine Holzveranda hinaus. Es ist fünf Uhr in der Früh, über dem Horizont im Osten liegt das helle Band der Dämmerung. Es duftet nach Blumen und Gras, es ist das Ende eines warmen, aber nassen Augustmonats. Das wird ein schöner Tag heute. Darüber freut sie sich. Es gibt so vieles, worüber sie sich freuen kann. In ihrem Leben gibt es keine Gefahren, nicht hier, nicht dort.
Die Frau fröstelt, als wäre von Norden Wind aufgekommen. Hinter ihr knurrt Laika. Die Frau macht einen Schritt weiter auf die hölzerne Veranda und glaubt, in der westlichen Gartenecke eine Bewegung zwischen den Ahornbäumen zu sehen, einen huschenden Schatten. Wieder fröstelt sie. Es ist der Wind, es war der Wind, der die Äste bewegt hat. Sie reichen fast bis zur Erde. Laika ist verstummt.
Der Hund ist ihr nicht nach draußen gefolgt.
Es ist das erste Mal, dass Laika trotz geöffneter Tür freiwillig im Haus bleibt, denkt sie.
Die Dunkelheit lichtet sich. Mit jeder Sekunde wird es heller.
Die Frau geht die drei Stufen zum Schotterweg hinunter, weiter zur Pforte und zum Briefkasten. Fünfundzwanzig Schritte sind es bis dorthin. Sie öffnet den Briefkastendeckel. Keine Zeitung. Laika bellt wieder, und sie dreht sich um. Der Hund ist nirgends zu sehen, er scheint immer noch in der Diele zu sein. Das Bellen klingt gedämpft. Jetzt verstummt es. Plötzlich ist es ganz still, still in der Idylle, in der sie lebt. Und sie fröstelt, als stände sie mitten im kalten Wind. Sie hat Angst. Was ist das, denkt sie. Was ist mit mir los? Hier gibt es keine Gefahr. Hier bin ich zu Hause.
*
Ein Mann sitzt in der Küche. Es ist ihr Mann. Er trägt auch einen Morgenmantel, seiner ist rot und schwarz, ihrer ist weiß und blau. Er reibt sich die Augen und schaut auf.
»Keine Zeitung, Rita?«
»Nein, der Zeitungsbote hat sich wohl verspätet.«
»Wenn er überhaupt kommt. Ist vielleicht schon auf dem Weg in die Schären, um ein letztes Bad zu nehmen.«
»Um fünf Uhr morgens?«
»Man muss früh da sein, um einen guten Platz zu ergattern. Um sieben werden die Russen mit dem Helikopter eingeflogen. Die breiten ihre Badelaken auf den Klippen aus, um ihre Plätze zu markieren.«
»Wie am Hotelpool.«
»Genau.«
»Hast du Laika gehört?«
»Hab ich. Vermutlich bin ich von ihrem Gebell aufgewacht.«
»Irgendetwas hat sie erschreckt, Peter.«
»Alles erschreckt sie.«
»Aber sonst steht sie nicht an der Tür und bellt.«
»Auf der Straße ist wohl jemand vorbeigegangen.«
»Bis zur Straße sind es zwanzig Meter.«
»Hunde haben ein gutes Gehör.«
»Ich mein das ernst. Du weißt genau, dass Laika fast taub ist.«
»Was meinst du ernst, Liebling?«
»Ich weiß nicht.« Sie schiebt eine Locke hinter das Ohr. »Da draußen war es plötzlich so kalt.«
Er löffelt Pulverkaffee in zwei Tassen, gießt ein wenig warme Milch darauf und dann heißes Wasser aus dem Wasserkocher.
Sie schaut aus dem Fenster. Die Sonne bricht durch das Laubwerk, alles glitzert.
»So schöne Tage hat es in diesem Sommer nicht viele gegeben. «
»Es ist noch nicht Tag. Das Wetter kann sich noch ändern.«
»Ich wusste gar nicht, dass du aus Västerås stammst.«
»Västerås?«
»Der Quengelgürtel Schwedens. Ein Västeråser trifft einen anderen und sagt, schönes Wetter heute, und der andere antwortet, heute, ja.«
»Ich bin noch nie in Västerås gewesen.«
»Zwei Drittel der Västeråser wohnen in Stockholm«, sagt sie.
»Dann gibt es ja nur noch ein Drittel Bewohner in Västerås.«
»So ist es.«
»Wie traurig, für Västerås, meine ich.«
Er hört Schritte auf der Treppe. Trippelschritte.
Ein kleines Mädchen taucht in der Tür auf, gefolgt von einem zweiten kleinen Mädchen.
»Gu'n Morrrgen!«, ruft das ältere Mädchen. Sie ist sechs Jahre alt. Ihre Schwester ist zwei. Sie ruft: »Guumooagen!«
»Guten Morgen, Mädchen«, sagt Peter. »Guten Morgen, Magdalena, guten Morgen, Isabella.«
»Es regnet nicht!«, sagt Magdalena.
»Das wird ein schöner Tag«, sagt Rita.
»Können wir nicht baden fahren?«, fragt Magdalena, die Ältere der beiden. »Baden!«, sagt Isabella.
»Vielleicht zum letzten Mal«, sagt Rita. »Kannst du dir heute nicht freinehmen, Peter?«
»Heute nicht. Keine Chance.«
Sie schaut ihn an.
»Was für ein Glück, dass ich freihabe«, sagt sie.
»Ja, wirklich.«
»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als einen Tag mit den Mädchen baden zu fahren«, sagt sie.
»Ich auch nicht«, sagt er. »Einen Tag mit den Mädchen baden fahren.«
Peter fädelt sich durch den dichten Verkehr der Stadt. Ein Regentropfen schlägt gegen die Windschutzscheibe, dann noch einer, zwei, drei, vier, fünf. Das war's also mit dem schönen Wetter. Zehn Minuten Sonnenschein, mehr kann der Norden von seinem grünen Winter nicht erwarten.
Er wechselt mit der Fernbedienung am Lenkrad den Radiosender, findet aber nichts, was ihm gefällt. Im Radio gibt es nichts Hörenswertes mehr, denkt er. Keine alten, vertrauten Wohlfühlsongs, bei denen man sich auf dem Weg zur Arbeit für einen Moment entspannen kann.
Er schiebt eine CD in den Player und lauscht, wird etwas ruhiger. Das Handy vibriert in seiner Halterung, es leuchtet und blinkt.
»Ja?«, sagt er, ohne die Hände vom Steuer zu nehmen.
Keine Antwort.
»Ja?«
Es knistert, dann nichts mehr, nur ein Tuten im Ohr. Das Display zeigt »unbekannte Nummer« an. Es ist nicht das erste Mal. Unbekannte Nummern sind okay. Da braucht er nicht zurückzurufen. Er hat sich auch angewöhnt, bekannte Nummern nicht zurückzurufen.
Die Ampel springt auf Rot. Er hält an und sieht sich um. Niemand scheint ihn zu beachten, alle haben den Blick auf die rote Ampel gerichtet, als hinge ihr Leben davon ab. Und gewissermaßen ist es wohl so, denkt er. Das Leben hängt vom Licht ab. Und es ward Licht.
Er lauscht Nick Caves ruhigem Gemurmel, aber es beruhigt ihn nicht. Er biegt nach links ab und noch einmal nach links. Eine Sekunde lang erwägt er, ein weiteres Mal links abzubiegen und nach Hause zurückzukehren, die Familie ins Auto zu laden und zum Baden zu fahren, zu einem weit entfernten Badeplatz. Weit weg in die entgegengesetzte Richtung.
Ihm folgt ein Auto in seine Richtung. Es ist blau wie spätes Sommerabendblau. Es biegt ab, nach links, links, links.
Das Auto rollt in die Unterwelt, wird von dem Gebäude mit der Glasfassade verschluckt. Der blaue Wagen ist weitergefahren. Er hat es sich nur eingebildet, niemand hat ihn verfolgt. Im Fahrstuhlspiegel studiert er sein Gesicht. Er kann nichts entdecken, was er nicht kennt. Jedenfalls hofft er, dass es so ist. Äußerlich ist ihm nicht anzusehen, was er im Innern mit sich herumträgt. Noch nicht, nicht ganz. Es wird nie zu sehen sein. Besonders alt sehe ich nicht aus, denkt er. Manche Leute behaupten, man habe das Gesicht, das man verdient. Was das in meinem Fall bedeutet, weiß ich nicht. Ich verdiene es, verdiene es mehr als andere.
Er trägt einen grauen Anzug. Oscar Jacobson, nicht übermäßig teuer, aber auch kein billiges Zeug. Seit er ein Mann geworden ist, hat er sich in dieser gehobenen Mittelschicht halten können, der oberen Mittelklasse, die vielleicht nicht die breiteste, aber die sicherste ist, nach oben und unten kaum durchlässig. Er weiß nicht, wie es von der Seite ist, in die Richtung hat er nie geschaut, wollte er nie schauen.
Sein Haar schimmert blau im Fahrstuhllicht. Seine Augen wirken kalt, das ist ihm noch nie aufgefallen. Seltsam, er hat das Gefühl, zum ersten Mal in seine neuen Augen zu blicken, als würde auf der anderen Seite des Spiegelglases ein anderer stehen. Du bist kein anderer, denkt er, du bist Peter Mattéus. Du bist jetzt nur noch Peter Mattéus. Während er seinen Namen denkt, bewegt er die Lippen.
Er tritt aus dem Fahrstuhl und geht auf eine Glastür am hinteren Ende der offenen Bürolandschaft zu. Überall Glas, überall Licht.
Er betritt den Raum, an den hellen Wänden hängen gerahmte Diplome und Plakate. Alles ist sehr hell, ein Ort voller Lachen, Licht und Optimismus. Ein Raum für Gewinner. Eine ganze Etage für Gewinner, hier gibt es nur Gewinner. Für Verlierer ist es zu hell, so ist das, Verlierer werden vom Dunkel angezogen und Winners vom Licht. Einfacher kann es gar nicht sein. Winners, we are the winners.
Fünf Menschen sitzen um den ovalen Tisch, der mitten im Raum steht. Nur wenige schauen auf, als er eintritt. Eine Frau ist mitten in einer Powerpoint-Präsentation. Was für ein dämliches Wort, Powerpoint-Präsentation. Sie klickt eine Alternative in ihrem Computer an, und das Resultat wird auf den großen Bildschirm projiziert. Zwei Männer lehnen sich zurück, um besser sehen zu können.
Die Frau blickt von ihrem Computer auf. Sie trägt ein dunkles Kostüm mit Schlips. Warum trägt sie einen Schlips, denkt er, als er sich setzt. Wollen die alles übernehmen? Er selber verzichtet auf einen Schlips. Er ist überzeugt, dass er keinen braucht. Wie auch immer, eine Krawatte ist ein Kleidungsstück für Männer.
»Ich glaube nicht, dass sie das ablehnen«, sagt die Frau.
»Glauben?«, sagt der spitzbärtige Mann rechts von Peter. Er trägt Hosenträger über dem Leinenhemd, ist um die fünfzig, älter als Peter, wirkt jedoch unkonventioneller.
Die Frau scheint sich ertappt zu fühlen, sieht aber immernoch wie eine Gewinnerin aus. Peter dreht sich zu dem Mann um.
»Ach, Lasse, beiß dich doch nicht an einzelnen Wörtern fest.«
»Ich beiße mich an einzelnen Wörtern fest? In diesem Stadium sollten wir längst wissen, dass wir den Zuschlag bekommen und nicht mehr nur daran glauben. Oder, Linda?«
»Ja ... natürlich«, antwortet die Frau. Sie nimmt den Stift wieder in die Hand, studiert ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Als wäre er nicht mehr richtig funktionsfähig. Vielleicht ist es ein billiger Stift. Sie kann nur mit teuren Gegenständen arbeiten.
»Wo hast du übrigens gesteckt?«, fragt Lasse und boxt ihn leicht gegen die Schulter.
»Verkehrschaos im Südumgehungstunnel.«
»Schon wieder?«
Er nickt.
»Diesmal keine Terroristenwarnung? Haha.«
»Nicht, was ich sehen konnte.«
»Meinst du, Terroristen kann man sehen? Rein visuell?« Lasse lacht wieder. »So wie man dich und mich sieht?«
»Linda ist noch nicht fertig.« Peter deutet mit dem Kopf auf die Frau im Kostüm.
»Was? Ach ja. Okay, okay.«
Linda klickt ein neues Bild an, das auf dem Bildschirm erscheint. Das gehört nun mal zu ihrem Job, darum kommt sie nicht herum.
Peter schaut aus dem Fenster. Wasser strömt an den Scheiben herunter. Sie werden heute doch nicht baden, denkt er. Vielleicht war es der Regen, den Laika gewittert hat. Tiere haben solche Instinkte. Vielleicht gibt es Sturm. Womöglich Schnee. Nichts ist mehr, wie es einmal war.
Ein jüngerer Mann betritt den Raum, ohne vorher an die Tür zu klopfen, die offen steht zu dem Loft, wo es ebenfalls kreativ zugeht, Kreativität als Dauerzustand. Dort sitzen mindestens fünfzig Personen, denkt er, alle sehr kreativ. Sehr smart. Die Werbebranche ist eine gigantische Verschwendung menschlicher Intelligenz. Er betrachtet den eben hereingekommenen Kollegen, der ein T-Shirt und Jeans trägt und aussieht wie ein Oberschüler.
»Was für ein verdammtes Gerenne«, sagt Lasse. »Was willst du, Lukas?«
Lukas hat eine Jiffytüte in der Hand.
»Dringend, für Peter.«
»Dringend?«
Lukas durchquert den Raum und übergibt das gefütterte Kuvert.
»Was ist das?«, fragt Peter.
Lasse lacht auf.
»Lukas ist zwar clever, aber einen Röntgenblick hat der Junge nicht.«
»Danke.« Peter nimmt den Umschlag entgegen. »Und warum ist es dringend?«
© ullstein
Der Hund bellt, erst hat er nur geknurrt, doch das hat im Haus niemand gehört. Jetzt bellt er, denn er hört, dass jemand vor der Tür ist. Der Hund weiß, dass draußen etwas Gefährliches ist. Er wird es aufhalten, deswegen steht er hier. Er ist nicht groß, aber er kann bellen. Seine Augen funkeln im Licht der Straßenbeleuchtung, die durch das Türglas fällt. Wieder eine Bewegung. Wieder bellt der Hund.
Die Deckenbeleuchtung in der Diele flammt auf.
»Laika? Laika! Was ist denn, mein Mädchen?«
Laika schaut sich um. Dann wendet sie sich erneut der Tür zu und bellt weiter.
Eine Frau im Bademantel kommt die Treppe zur Diele herunter. Sie ist blond und blinzelt verschlafen in das Licht.
»Hat dich der Zeitungsbote mal wieder aufgeschreckt?«
Die Frau beugt sich zu dem Hund hinunter und streicht ihm über Schnauze und Hals. Jetzt hat er aufgehört zu bellen. Er knurrt nur noch, aber es klingt nicht mehr drohend, als gäbe es draußen nichts Gefährliches mehr, keinen gefährlichen Zeitungsboten.
»Ist schon gut, meine Alte, schon gut. Du weckst noch das ganze Haus. Was sollen denn die Mädchen denken, wenn du so einen Krach machst?«
Die Frau richtet sich auf. Sie öffnet die Haustür und tritt auf eine kleine Holzveranda hinaus. Es ist fünf Uhr in der Früh, über dem Horizont im Osten liegt das helle Band der Dämmerung. Es duftet nach Blumen und Gras, es ist das Ende eines warmen, aber nassen Augustmonats. Das wird ein schöner Tag heute. Darüber freut sie sich. Es gibt so vieles, worüber sie sich freuen kann. In ihrem Leben gibt es keine Gefahren, nicht hier, nicht dort.
Die Frau fröstelt, als wäre von Norden Wind aufgekommen. Hinter ihr knurrt Laika. Die Frau macht einen Schritt weiter auf die hölzerne Veranda und glaubt, in der westlichen Gartenecke eine Bewegung zwischen den Ahornbäumen zu sehen, einen huschenden Schatten. Wieder fröstelt sie. Es ist der Wind, es war der Wind, der die Äste bewegt hat. Sie reichen fast bis zur Erde. Laika ist verstummt.
Der Hund ist ihr nicht nach draußen gefolgt.
Es ist das erste Mal, dass Laika trotz geöffneter Tür freiwillig im Haus bleibt, denkt sie.
Die Dunkelheit lichtet sich. Mit jeder Sekunde wird es heller.
Die Frau geht die drei Stufen zum Schotterweg hinunter, weiter zur Pforte und zum Briefkasten. Fünfundzwanzig Schritte sind es bis dorthin. Sie öffnet den Briefkastendeckel. Keine Zeitung. Laika bellt wieder, und sie dreht sich um. Der Hund ist nirgends zu sehen, er scheint immer noch in der Diele zu sein. Das Bellen klingt gedämpft. Jetzt verstummt es. Plötzlich ist es ganz still, still in der Idylle, in der sie lebt. Und sie fröstelt, als stände sie mitten im kalten Wind. Sie hat Angst. Was ist das, denkt sie. Was ist mit mir los? Hier gibt es keine Gefahr. Hier bin ich zu Hause.
*
Ein Mann sitzt in der Küche. Es ist ihr Mann. Er trägt auch einen Morgenmantel, seiner ist rot und schwarz, ihrer ist weiß und blau. Er reibt sich die Augen und schaut auf.
»Keine Zeitung, Rita?«
»Nein, der Zeitungsbote hat sich wohl verspätet.«
»Wenn er überhaupt kommt. Ist vielleicht schon auf dem Weg in die Schären, um ein letztes Bad zu nehmen.«
»Um fünf Uhr morgens?«
»Man muss früh da sein, um einen guten Platz zu ergattern. Um sieben werden die Russen mit dem Helikopter eingeflogen. Die breiten ihre Badelaken auf den Klippen aus, um ihre Plätze zu markieren.«
»Wie am Hotelpool.«
»Genau.«
»Hast du Laika gehört?«
»Hab ich. Vermutlich bin ich von ihrem Gebell aufgewacht.«
»Irgendetwas hat sie erschreckt, Peter.«
»Alles erschreckt sie.«
»Aber sonst steht sie nicht an der Tür und bellt.«
»Auf der Straße ist wohl jemand vorbeigegangen.«
»Bis zur Straße sind es zwanzig Meter.«
»Hunde haben ein gutes Gehör.«
»Ich mein das ernst. Du weißt genau, dass Laika fast taub ist.«
»Was meinst du ernst, Liebling?«
»Ich weiß nicht.« Sie schiebt eine Locke hinter das Ohr. »Da draußen war es plötzlich so kalt.«
Er löffelt Pulverkaffee in zwei Tassen, gießt ein wenig warme Milch darauf und dann heißes Wasser aus dem Wasserkocher.
Sie schaut aus dem Fenster. Die Sonne bricht durch das Laubwerk, alles glitzert.
»So schöne Tage hat es in diesem Sommer nicht viele gegeben. «
»Es ist noch nicht Tag. Das Wetter kann sich noch ändern.«
»Ich wusste gar nicht, dass du aus Västerås stammst.«
»Västerås?«
»Der Quengelgürtel Schwedens. Ein Västeråser trifft einen anderen und sagt, schönes Wetter heute, und der andere antwortet, heute, ja.«
»Ich bin noch nie in Västerås gewesen.«
»Zwei Drittel der Västeråser wohnen in Stockholm«, sagt sie.
»Dann gibt es ja nur noch ein Drittel Bewohner in Västerås.«
»So ist es.«
»Wie traurig, für Västerås, meine ich.«
Er hört Schritte auf der Treppe. Trippelschritte.
Ein kleines Mädchen taucht in der Tür auf, gefolgt von einem zweiten kleinen Mädchen.
»Gu'n Morrrgen!«, ruft das ältere Mädchen. Sie ist sechs Jahre alt. Ihre Schwester ist zwei. Sie ruft: »Guumooagen!«
»Guten Morgen, Mädchen«, sagt Peter. »Guten Morgen, Magdalena, guten Morgen, Isabella.«
»Es regnet nicht!«, sagt Magdalena.
»Das wird ein schöner Tag«, sagt Rita.
»Können wir nicht baden fahren?«, fragt Magdalena, die Ältere der beiden. »Baden!«, sagt Isabella.
»Vielleicht zum letzten Mal«, sagt Rita. »Kannst du dir heute nicht freinehmen, Peter?«
»Heute nicht. Keine Chance.«
Sie schaut ihn an.
»Was für ein Glück, dass ich freihabe«, sagt sie.
»Ja, wirklich.«
»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als einen Tag mit den Mädchen baden zu fahren«, sagt sie.
»Ich auch nicht«, sagt er. »Einen Tag mit den Mädchen baden fahren.«
Peter fädelt sich durch den dichten Verkehr der Stadt. Ein Regentropfen schlägt gegen die Windschutzscheibe, dann noch einer, zwei, drei, vier, fünf. Das war's also mit dem schönen Wetter. Zehn Minuten Sonnenschein, mehr kann der Norden von seinem grünen Winter nicht erwarten.
Er wechselt mit der Fernbedienung am Lenkrad den Radiosender, findet aber nichts, was ihm gefällt. Im Radio gibt es nichts Hörenswertes mehr, denkt er. Keine alten, vertrauten Wohlfühlsongs, bei denen man sich auf dem Weg zur Arbeit für einen Moment entspannen kann.
Er schiebt eine CD in den Player und lauscht, wird etwas ruhiger. Das Handy vibriert in seiner Halterung, es leuchtet und blinkt.
»Ja?«, sagt er, ohne die Hände vom Steuer zu nehmen.
Keine Antwort.
»Ja?«
Es knistert, dann nichts mehr, nur ein Tuten im Ohr. Das Display zeigt »unbekannte Nummer« an. Es ist nicht das erste Mal. Unbekannte Nummern sind okay. Da braucht er nicht zurückzurufen. Er hat sich auch angewöhnt, bekannte Nummern nicht zurückzurufen.
Die Ampel springt auf Rot. Er hält an und sieht sich um. Niemand scheint ihn zu beachten, alle haben den Blick auf die rote Ampel gerichtet, als hinge ihr Leben davon ab. Und gewissermaßen ist es wohl so, denkt er. Das Leben hängt vom Licht ab. Und es ward Licht.
Er lauscht Nick Caves ruhigem Gemurmel, aber es beruhigt ihn nicht. Er biegt nach links ab und noch einmal nach links. Eine Sekunde lang erwägt er, ein weiteres Mal links abzubiegen und nach Hause zurückzukehren, die Familie ins Auto zu laden und zum Baden zu fahren, zu einem weit entfernten Badeplatz. Weit weg in die entgegengesetzte Richtung.
Ihm folgt ein Auto in seine Richtung. Es ist blau wie spätes Sommerabendblau. Es biegt ab, nach links, links, links.
Das Auto rollt in die Unterwelt, wird von dem Gebäude mit der Glasfassade verschluckt. Der blaue Wagen ist weitergefahren. Er hat es sich nur eingebildet, niemand hat ihn verfolgt. Im Fahrstuhlspiegel studiert er sein Gesicht. Er kann nichts entdecken, was er nicht kennt. Jedenfalls hofft er, dass es so ist. Äußerlich ist ihm nicht anzusehen, was er im Innern mit sich herumträgt. Noch nicht, nicht ganz. Es wird nie zu sehen sein. Besonders alt sehe ich nicht aus, denkt er. Manche Leute behaupten, man habe das Gesicht, das man verdient. Was das in meinem Fall bedeutet, weiß ich nicht. Ich verdiene es, verdiene es mehr als andere.
Er trägt einen grauen Anzug. Oscar Jacobson, nicht übermäßig teuer, aber auch kein billiges Zeug. Seit er ein Mann geworden ist, hat er sich in dieser gehobenen Mittelschicht halten können, der oberen Mittelklasse, die vielleicht nicht die breiteste, aber die sicherste ist, nach oben und unten kaum durchlässig. Er weiß nicht, wie es von der Seite ist, in die Richtung hat er nie geschaut, wollte er nie schauen.
Sein Haar schimmert blau im Fahrstuhllicht. Seine Augen wirken kalt, das ist ihm noch nie aufgefallen. Seltsam, er hat das Gefühl, zum ersten Mal in seine neuen Augen zu blicken, als würde auf der anderen Seite des Spiegelglases ein anderer stehen. Du bist kein anderer, denkt er, du bist Peter Mattéus. Du bist jetzt nur noch Peter Mattéus. Während er seinen Namen denkt, bewegt er die Lippen.
Er tritt aus dem Fahrstuhl und geht auf eine Glastür am hinteren Ende der offenen Bürolandschaft zu. Überall Glas, überall Licht.
Er betritt den Raum, an den hellen Wänden hängen gerahmte Diplome und Plakate. Alles ist sehr hell, ein Ort voller Lachen, Licht und Optimismus. Ein Raum für Gewinner. Eine ganze Etage für Gewinner, hier gibt es nur Gewinner. Für Verlierer ist es zu hell, so ist das, Verlierer werden vom Dunkel angezogen und Winners vom Licht. Einfacher kann es gar nicht sein. Winners, we are the winners.
Fünf Menschen sitzen um den ovalen Tisch, der mitten im Raum steht. Nur wenige schauen auf, als er eintritt. Eine Frau ist mitten in einer Powerpoint-Präsentation. Was für ein dämliches Wort, Powerpoint-Präsentation. Sie klickt eine Alternative in ihrem Computer an, und das Resultat wird auf den großen Bildschirm projiziert. Zwei Männer lehnen sich zurück, um besser sehen zu können.
Die Frau blickt von ihrem Computer auf. Sie trägt ein dunkles Kostüm mit Schlips. Warum trägt sie einen Schlips, denkt er, als er sich setzt. Wollen die alles übernehmen? Er selber verzichtet auf einen Schlips. Er ist überzeugt, dass er keinen braucht. Wie auch immer, eine Krawatte ist ein Kleidungsstück für Männer.
»Ich glaube nicht, dass sie das ablehnen«, sagt die Frau.
»Glauben?«, sagt der spitzbärtige Mann rechts von Peter. Er trägt Hosenträger über dem Leinenhemd, ist um die fünfzig, älter als Peter, wirkt jedoch unkonventioneller.
Die Frau scheint sich ertappt zu fühlen, sieht aber immernoch wie eine Gewinnerin aus. Peter dreht sich zu dem Mann um.
»Ach, Lasse, beiß dich doch nicht an einzelnen Wörtern fest.«
»Ich beiße mich an einzelnen Wörtern fest? In diesem Stadium sollten wir längst wissen, dass wir den Zuschlag bekommen und nicht mehr nur daran glauben. Oder, Linda?«
»Ja ... natürlich«, antwortet die Frau. Sie nimmt den Stift wieder in die Hand, studiert ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Als wäre er nicht mehr richtig funktionsfähig. Vielleicht ist es ein billiger Stift. Sie kann nur mit teuren Gegenständen arbeiten.
»Wo hast du übrigens gesteckt?«, fragt Lasse und boxt ihn leicht gegen die Schulter.
»Verkehrschaos im Südumgehungstunnel.«
»Schon wieder?«
Er nickt.
»Diesmal keine Terroristenwarnung? Haha.«
»Nicht, was ich sehen konnte.«
»Meinst du, Terroristen kann man sehen? Rein visuell?« Lasse lacht wieder. »So wie man dich und mich sieht?«
»Linda ist noch nicht fertig.« Peter deutet mit dem Kopf auf die Frau im Kostüm.
»Was? Ach ja. Okay, okay.«
Linda klickt ein neues Bild an, das auf dem Bildschirm erscheint. Das gehört nun mal zu ihrem Job, darum kommt sie nicht herum.
Peter schaut aus dem Fenster. Wasser strömt an den Scheiben herunter. Sie werden heute doch nicht baden, denkt er. Vielleicht war es der Regen, den Laika gewittert hat. Tiere haben solche Instinkte. Vielleicht gibt es Sturm. Womöglich Schnee. Nichts ist mehr, wie es einmal war.
Ein jüngerer Mann betritt den Raum, ohne vorher an die Tür zu klopfen, die offen steht zu dem Loft, wo es ebenfalls kreativ zugeht, Kreativität als Dauerzustand. Dort sitzen mindestens fünfzig Personen, denkt er, alle sehr kreativ. Sehr smart. Die Werbebranche ist eine gigantische Verschwendung menschlicher Intelligenz. Er betrachtet den eben hereingekommenen Kollegen, der ein T-Shirt und Jeans trägt und aussieht wie ein Oberschüler.
»Was für ein verdammtes Gerenne«, sagt Lasse. »Was willst du, Lukas?«
Lukas hat eine Jiffytüte in der Hand.
»Dringend, für Peter.«
»Dringend?«
Lukas durchquert den Raum und übergibt das gefütterte Kuvert.
»Was ist das?«, fragt Peter.
Lasse lacht auf.
»Lukas ist zwar clever, aber einen Röntgenblick hat der Junge nicht.«
»Danke.« Peter nimmt den Umschlag entgegen. »Und warum ist es dringend?«
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Autoren-Porträt von Åke Edwardson
Åke Edwardson, geboren 1953, lebt mit seiner Frau in Göteborg. Einige Monate im Jahr verbringt das Ehepaar im Süden Spaniens, in Marbella. Bevor Edwardson einer der weltweit erfolgreichsten Autoren von Kriminalliteratur wurde, arbeitete er als Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten, schrieb Sachbücher und unterrichtete an der Universität Creative Writing.
Bibliographische Angaben
- Autor: Åke Edwardson
- 2013, 1. Auflage, 256 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Angelika Kutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843703523
- ISBN-13: 9783843703529
- Erscheinungsdatum: 15.02.2013
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- Dateiformat: ePub
- Größe: 3.37 MB
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